Friedemann Burkhardt: Interkulturalität und Kirchengemeinde
Friedemann Burkhardt: Interkulturalität und Kirchengemeinde. Grundzüge einer Praxistheorie interkultureller Gemeindeentwicklung, Religion in Bewegung | Religion in Motion 3, Bielefeld: transcript Verlag, 2023, Pb., 328 S., € 45,–, Print-ISBN 978-3-8376-6991-6, PDF-ISBN 978-3-8394-6991-0
Angesichts einer Kirchentheorie, in der Pluralität und Multikulturalität an der Gemeindebasis eher Postulate als untersuchte Phänomene darstellen, stößt die anspruchsvolle Habilitationsschrift von Friedemann Burkhardt, Praktischer Theologe an der IHL Bad Liebenzell, in Leerstellen vor: Sie untersucht mittels qualitativer Sozialforschung christliche Gemeinden hinsichtlich ihrer interkulturellen Dimension und entwirft unter Einbeziehung praktisch-theologischer Modelle Aspekte zur Leitung von Gemeinden, um schließlich „Grundzüge einer Theorie zu Interkulturalität und Gemeindeentwicklung“ vorzulegen. Burkhardt bevorzugt „Gemeindeentwicklung“ gegenüber dem aus seiner Sicht stark vorgeprägten Begriff „Gemeindeaufbau“, wobei Gemeinde innerhalb übergeordneter Bezüge von Kirche untersucht wird. Die Arbeit fokussiert auf die kirchentheoretische Dimension der Organisation (danach Gemeinschaft) auf der Ebene der lokalen Gemeinde.
Kapitel 1 führt den Interkulturalitätsbegriff des Erfurter Germanisten Csaba Földes ein: Reziproke Interaktionen bewirkten Veränderungen bei den Beteiligten, wodurch sich „eine qualitative Neugestaltung ihrer Beziehungen im Sinne tertiärkultureller Gemeinschaft ergibt“ (42). Burkhardt versteht Interkulturalität zudem als Wesenszug des Evangeliums, als theologisch notwendig für christliche Gemeinschaft. Als empirische Basis des Grounded Theory Verfahrens wählt er vier protestantische Gemeinden aus, die innerhalb ihrer Netzwerke erschlossen werden: erstens eine Migrationsgemeinde aus einem afro-transnationalen Gemeindebund; zweitens eine landeskirchliche Gemeinde mit einer Vielfalt an Arbeitszweigen und einem starken sonntäglichen Gottesdienst; drittens eine landeskirchliche Gemeinschaft mit sozial-missionarischem Profil; viertens einen methodistischen Gemeindebezirk mit zwei deutschen sowie einer englischen und einer vietnamesischen Gemeinde.
Kapitel 2 erarbeitet anhand der vier Gemeinden interkulturelle Phänomene, Interkulturalität in gemeindlichen Handlungsfeldern und Motive interkultureller Entwicklungen. Burkhardt kategorisiert Gemeinden hinsichtlich ihres Grades an interkultureller Öffnung als homogen-geschlossen, offen-integrativ, multikulturell sowie interkulturell-inklusiv. Weiterhin entwirft er im Hinblick auf übergemeindliche Vernetzung die Kategorien ökumenisch-multikongregationalistisch und weltchristlich-transnational. Als „Kernkategorien“ interkultureller Gemeindeentwicklung stellt er migrationssensible Leitungspersonen, Xenophilie, weltchristlicher Horizont, Visionsarbeit, strategische Entscheidungen und ein sechsgliedriges prozessuales Muster interkultureller Gemeindeentwicklung (Phasen-Modell) heraus. Darunter sei Visionsarbeit als Schlüsselkategorie anzusehen, da sie die anderen Kategorien stark beeinflusse, insbesondere die interkulturelle Öffnung einer Gemeinde bedinge und interkulturelle Entwicklungen begleite.
Kapitel 3 entwickelt in Zusammenführung von empirischer Untersuchung, biblisch-theologischer sowie praktisch-theologischer Aspekte aus den vorher gewonnenen Kernkategorien und einem zusätzlichen Interferenz-Modell sieben praktisch-theologische Prinzipien interkultureller Gemeindeentwicklung. Gemäß dem Interferenz-Modell zögen interkulturelles Sein, Denken und Handeln konstruktive Effekte in einer Gemeinde nach sich. Ein für die Kirchentheorie besonders relevantes Ergebnis ist die Feststellung, dass sich der Vielfalt von Milieus und Kulturen nicht allein durch Milieu- und Zielgruppenarbeit begegnen lässt, sondern einen interkulturellen Ansatz erfordert, der sich sensibel für die Bedürfnisse von Menschen mit internationalem Hintergrund zeigt und zugleich theologisch bedingt darauf abzielt, Milieugrenzen zu überschreiten.
Kapitel 4 fasst Aspekteeiner Theorie interkultureller Gemeindeentwicklung zusammen, die das Potenzial einer „Kohärenz konstruktiver Interferenzen“ bergen. Burkhardt schlägt einen „Gemeindeentwicklungsrahmen“ als „Master-Control-System“ mit den vier Dimensionen Steuerungsgrößen und Visionsinhalte sowie Orientierungsgrößen und Verhalten vor, die in kybernetischer Absicht wahrzunehmen und zu gestalten seien.
Angesichts einer Einwanderungsgesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland und der Mischung aus Rückgängen verfasster Kirche einerseits und fluiden Neuentwicklungen andererseits steuert Burkhardt wichtige Beiträge zu, um im Chaos ordnende Muster zu erkennen. Burkhardts „konstruktive Interferenzen“ erhellen das Verständnis gemeindlicher Prozesse und bieten neuartige kybernetische Anhaltspunkte; insbesondere die differenzierte Darlegung der bedeutungsvollen Visionsarbeit antwortet auf die kirchentheoretische Fragestellung, welche Rolle Intentionen von Leitern und die Setzung von Zielen konstruktiv und effektiv spielen können. Dabei bleibt zu validieren, inwiefern Burkhardts Modell von Leitung in anderen als den untersuchten Kontexten wirkt. Die Monografie ist auch als Open Access erhältlich.
Dr. Johannes Schütt, Klinikseelsorger, Leipzig