Praktische Theologie

Elke Hemminger: Bildung im digitalen Wandel

Elke Hemminger: Bildung im digitalen Wandel. Soziologische Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer, 2023, Pb., 112 S., € 27,–, ISBN 978-3-17-039560-2


Mit der fortschreitenden Digitalisierung tauchen neuartige Fragestellungen auf, zeitgleich verschärfen sich altbekannte Herausforderungen. Elke Hemminger arbeitet als Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie. Mit dem vorliegenden Titel bietet sie eine grundlegende Reflexion darüber, wie der digitale Wandel das Verständnis und die Praxis von Bildung verändert.

Zu Anfang schildert Hemminger in Kapitel 1 die prekäre Lage, in der sich viele Bildungsinstitutionen und -akteure in den letzten Jahren befanden. Im Kontrast zu gängigen Annahmen unterstreicht sie: (1.) Online-Lehre muss nicht bloß die zweitbeste Lösung sein. (2.) Auch in digitalen Räumen sind soziale Interaktion und Bindungen möglich. (3.) Digitalisierung hat nicht automatisch etwas mit Bildung zu tun. (4.) Medienbildung sollte Reflexionskompetenz statt marktorientiertes Wissen voranbringen. (5.) Lehrende wünschen sich mehr inhaltliche, statt technische Unterstützung. (6.) Bildung ist kein Allheilmittel im Umgang mit digitalen Medien.

In Kapitel 2 definiert die Autorin das gesellschaftsprägende Phänomen der Digitalisierung mit Blick auf Bildung als ein ‚wicked problem‘, für das es weder simple Lösungen noch Präzedenzfälle gibt. Während Technik ursprünglich alltagstaugliche Fähigkeiten oder ein Handwerk meinte, ist die heutige Gesellschaft massiv auf Technologie angewiesen. Technische Innovationen und gesellschaftlichen Wandel sieht Hemminger in einem zirkulären, wechselseitigen Verhältnis. Zugleich warnt sie vor drohender sozialer Ungleichheit, die im Fahrwasser neuer globaler, technologischer Möglichkeiten lauert.

Ergänzend dazu bietet Kapitel 3 Reflexionen zum Bildungsbegriff, der sich unterschiedlich füllen lässt. Zwar verweist der Terminus auf Können und Wissen, doch sollte man ihn weder darauf begrenzen noch idealistisch überhöhen. Die Autorin erinnert hierbei kritisch an die Bildungsideen der Aufklärungszeit, insbesondere Humboldts. Vor allem das „Lernen in Freiheit im Sinne der Aufklärung“ (37) könne inmitten sozialer, politischer und kultureller Umbrüche neue Bildungsprozesse begünstigen, die Gesellschaft stabilisieren und angemessen hinterfragen.

Kapitel 4 klärt weitere Konzepte: Digitalisierung ist als Begriff ambivalent und oszilliert „zwischen technischer Eindeutigkeit und der Vielfältigkeit sozio-kultureller Dimensionen“ (44). Damit verbunden ist die digitale Transformation, die an die neuzeitliche Betonung technischer Leistungskraft anschließt. Mittlerweile sind digitale Räume in die Infrastrukturen der Menschen ‚natürlich‘ integriert, als Erweiterung alltäglicher Erfahrungsräume. Im Anschluss an F. Stalder lässt sich von einer Kultur der Digitalität sprechen: Geprägt von einer starken Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität produzieren Menschen verschiedenster Überzeugungen und Identitäten unterschiedlichste Inhalte mit sozialer Bedeutung. So „können zahlreiche Alternativen Ansprüche auf Gültigkeit und Legitimation erheben und öffentlich um Anerkennung werben“ (50).

Darauf aufbauend fragt Hemminger in Kapitel 5 nach der Zukunft von Lehren und Lernen. Hierbei geht sie auf die Perspektiven des Hagener Manifests zum New Learning ein und bespricht die Ergebnisse aktueller Bildungsstudien nach Corona. Diese wiederum vergleicht sie mit dem Konzept der Bildungstrends von O.-A. Burow und den 21st Century Skills nach Robinson.

Während die Autorin in Kapitel 6 exemplarisch und kritisch auf die schulischen Vorgaben zur Medienbildung in Baden-Württemberg eingeht, geht es in Kapitel 7 um nächste Schritte. Anstatt die Digitalisierung als unaufhaltsame Naturgewalt zu sehen, der man sich still anpasst, betont Hemminger die Möglichkeit und Verpflichtung zur Mitgestaltung der Zukunft. Besonders zentral scheint ihr dabei die akademische Inter- und Transdisziplinarität, ebenso eine wachsende Science and Technology Awareness in der breiteren Gesellschaft und in der Hochschullehre.

Mit Blick auf die Bildungskultur in Deutschland (Tradition), auf aktuelle Defizite (Investition) sowie auf zukünftige Möglichkeiten (Innovation) wirbt Hemminger in Kapitel 8 für ein erweitertes Bildungssystem „in Ergänzung zu den traditionellen Strukturen“ (97). Gut ausgestattete Bildungsoasen könnten Lebens- und Erfahrungsräume bieten, in denen Menschen jeglicher Herkunft mithilfe von Bildungslotsen ein freies Lehren und Lernen zur Mündigkeit verfolgen. Überlegungen zur weiteren Umsetzung des Szenarios, Gedanken zum gesellschaftlichen Diskurs, zum Wesen demokratischer Toleranz und ein Literaturverzeichnis runden den Titel ab.

Indem sie neben kulturellen Phänomenen auch gesellschaftliche Folgen und ethische Grundfragen diskutiert, präsentiert Elke Hemminger eine gelungene Einführung in ein wachsendes Forschungsfeld (vgl. Aßmann/ Ricken (Hg.): Bildung und Digitalität, Wiesbaden: Springer VS, 2023). Dabei skizziert sie griffig die Herausforderungen und potenziellen Handlungsfelder von Bildung in Deutschland und lädt zu einem kritisch-strategischen Nachdenken über den digitalen Wandel ein. Dies geschieht nicht immer linear stringent, dafür aber thematisch logisch. Indirekt sensibilisiert die Autorin zudem für die Spannungen einer wachsenden Metamoderne. Somit bieten sich zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für praktisch-theologische und gemeindepädagogische Überlegungen.

Theologisches Lehrpersonal und christliche Pädagogen werden sich von den Grundfragen und dem Potenzial der Studie zum Weiterdenken anregen lassen: Was kann und sollte christliche Bildung in einer Kultur der Digitalität umfassen? In welchem Maße und auf welchem Wege könnten sich Kirchen und Ausbildungsstätten zu alternativen, wahrhaft christlichen Bildungsoasen entwickeln?


Daniel Vullriede, M.A., Dozent am Bibelseminar Bonn und IBEI Rom