Benjamin Kilchör: Mosetora und Jahwetora
Benjamin Kilchör: Mosetora und Jahwetora. Das Verhältnis von Deuteronomium 12–26 zu Exodus, Levitikus und Numeri, Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische Rechtsgeschichte 21, Wiesbaden: Harrassowitz, 2015, geb., 390 S., € 98,–, ISBN 978-3-447-19420-4
Das Gesetz des Alten Testaments findet sich im Pentateuch in einzelnen Gesetzestexten wie auch in Rechtskorpora. Die drei großen nennt die alttestamentliche Wissenschaft Bundesbuch (kurz BB, Ex 21–23), Heiligkeitsgesetz (kurz H, Lev 17–26) und Deuteronomisches Gesetz (kurz D, Dtn 12–26). Während die Abgrenzung von BB und D als Rechtssammlungen klar ist, erscheint dies bei H eher willkürlich, weil es z. B. den Zusammenhang zwischen Lev 16 und 17 zerstört. Die gängige These der Rechtsforschung am AT ist eine Reihenfolge der Entstehung: BB – D – H, entsprechend der Wellhausenschen Quellenhypothese JE – D – P. Damit ginge also das Gesetz des Deuteronomiums dem in P (Lev 1–16 und Numeri) und H (Lev 17–26) voraus. Kilchör, Assistenzprofessor für Altes Testament an der STH Basel, greift in seiner leicht überarbeiteten Dissertation an der ETF Leuven/B diesen weitgehenden Konsens an und votiert für eine Reihenfolge BB – P und H – D, entsprechend der kanonischen Abfolge der biblischen Bücher Exodus – Levitikus – Numeri – Deuteronomium. Dabei versteht er in Anlehnung an Dtn 1,5 das deuteronomische Gesetz als Auslegung (= Mosetora) der Gesetze von Exodus bis Numeri (= Jahwetora) und zwar nicht nur synchron, sondern im Ergebnis auch diachron.
Ein Abkürzungsverzeichnis (XIII–XV) steht den drei Teilen voran. Es folgen in drei Kapiteln die Einleitung (1–70), der Hauptteil (71–307) und das Schlusskapitel (309–332). Im Anhang finden sich eine Statistik zur Abhängigkeitsrichtung der einzelnen Gesetze (333–335), ein englisches Summary (337–341) und eine Bibliographie (343–363). Ein Bibelstellenindex (365–386), sowie ein Autorenindex (387–390) schließen das Ganze ab.
Die Einleitung (Kapitel 1) orientiert zunächst über die Forschung und schafft dort einen guten Überblick. Nach der Darlegung seiner Methode – er möchte synchron lesen und nicht vorschnell werten – wendet Kilchör sich der postulierten dekalogischen Struktur des deuteronomischen Gesetzes zu, also der These Stephen Kaufmans, dass die Anordnung der Gebote im Dekalog auch den Aufbau von Dtn 12–26 insgesamt bestimmt, z. B. Fremdgötterverbot (Dtn 5,6–10) in Dtn 12,2–13,19; Namensmissbrauch (Dtn 5,11) in Dtn 14,1–22; Sabbat (Dtn 5,12–15) in Dtn 14,22–16,17, usw. Sie erhält Kilchör zufolge auch dadurch eine neue Untermauerung, dass die Texte der vorangehenden Bücher, die das Dtn auslegt, zum Teil diesen Zusammenhang fordern.
Der Hauptteil (Kapitel 2, S. 71–307) führt die These aus, indem, der dekalogischen Struktur von Dtn 12–26 folgend, die Gesetze des Dtn als Aufnahme von vorliegenden Gesetzen von Ex – Num gelesen werden. Dabei setzt Kilchör jeweils mit dem betreffenden Dekaloggebot ein und bespricht dann die betreffenden Gesetze von Exodus – Numeri in Beziehung zum jeweiligen Gesetz des Deuteronomiums. Einige Beispiele mögen die Methode veranschaulichen.
Das erste Beispiel soll gleich das vieldiskutierte Kapitel Dtn 12 bilden. Kilchörs Untersuchung sieht für Dtn 12,2–13,19 (Fremdgötterverbot) folgendermaßen aus. Zuerst wird der Dekalog herangezogen. Der Rahmen in 12,2–4 und 12,29–13,1 schaffe einen klaren Bezug zum 1. Gebot. Dtn 12,2–13,1 hat Parallelen insbesondere in Ex 20,24 und Lev 17 und wird darum ausführlich behandelt (71–95). 13,2–19 ist praktisch ohne pentateuchische Parallele, so dass der Abschnitt auf 1–2 Seiten abgehandelt wird. Auf synchroner Ebene folgt Kilchör der Leserichtung Ex 20,24–26 – Lev 17 – Dtn 12, anders als Wellhausen es für seine Religionsgeschichte Israels postulierte: Ex 20,24–26 (Gottesdienst an verschiedenen Orten); Dtn 12 (Kultzentralisation); Lev 17 (Verbot der Profanschlachtung). Kilchör hingegen argumentiert, dass sich das Altargesetz von Ex 20,24–26 auf die Sinaitheophanie beziehe und sich Vers 24 auf den ganzen, nicht jeden Ort beziehe, während es sich in Dtn 12 um die Wohnung Jahwes handle, nicht einen Altar. Das Deuteronomium greife das Altargesetz gar nicht an, sondern führe es fort. In Bezug auf Lev 17 nehme Dtn 12 die Profanschlachtung von Wildtieren auf und wende sie auf Haustiere an. So sei deutlich, dass Dtn 12 bereits Lev 17 voraussetze und nicht umgekehrt, in meinen Augen schlüssig und nachvollziehbar argumentiert. Dass dies den kritischen Konsens angreift, liegt auf der Hand.
Als zweites Beispiel dienen die Ausführungen zum Zehnten in Dtn 14,22–29. Das dritte Gebot (Sabbat) erfährt nach der Kilchör seine Auslegung in Dtn 14,22–16,17. Die Zehntengesetze lassen sich durchaus plausibel in der Richtung Lev 27 – Num 18 – Dtn 14 lesen, wie Kilchör schön zeigt. Seiner Meinung nach setze Dtn 14 geradezu die Regelung voraus, dass der Zehnte den Leviten gehöre (Num 18), also nicht „verprasst“ (Braulik) werde. Den Drittjahreszehnt liest er nicht als weiteren Armenzehnt, sondern als Varianz zum jährlichen Zehnt. Das muss man nicht unbedingt. Es könnte sich auch einen speziellen Armenzehnt handeln.
Das dritte Beispiel: Interessant und herausfordernd sind die pentateuchischen Sklavenfreilassungsgesetze in Ex 21; Lev 25 und Dtn 15, die sich nur schwer harmonisieren lassen. Der kritische Konsens geht dahin, dass die Jubeljahrregelung die ältere Sabbatjahrregelung aus Ex 21 und Dtn 15 ablöse, was der Wellhausenschen Abfolge BB – D – H entspricht. Kilchör liest auch hier mutig in der Richtung Ex 21 – Lev 25 – Dtn 15 und fasst die Texte komplementär auf, was ihm in meiner Sicht auch mit Ex 21 und Dtn 15 gut gelingt. Das bedeutet aber auch, er muss insbesondere das Jubeljahrmodell in Lev 25 erklären. Er tut dies, indem er unter dem verarmten Bruder den männlichen Hausvorstand sieht, dem es nur hülfe, wenn er mit der Freiheit auch sein Land zurückerhalte. Das bedeute im Höchstfalle eine 49-jährige Dienstzeit. Meines Erachtens kann das kaum ein Trost für diesen verarmten Israeliten darstellen. 49 Jahre! Von Interesse wäre gewesen, einmal eine Alternative wie etwa die von C. J. H. Wright zu besprechen, die die Sklavenzeit vom Sabbatjahr löst. Immerhin kann es mit der Zählung von Levitikus 25 ja nach sieben mal sieben Jahren (= 49 Jahre) kaum im 50. Jahr (Jubeljahr) noch Sklaven geben, die die Freiheit finden könnten!
Insgesamt finde ich die These von Kilchör aber überzeugend. Sie ist reich an exegetischen Beobachtungen, versucht einen ernsthaften synchronen Ansatz des Gesetzes im Pentateuch und so einen Zugang zum Ganzen des Gesetzes als einer Einheit zu eröffnen. Diese kanonische Lektüre bereichert das Verständnis des Gesetzes ungemein, weil sie anleitet, die Texte nicht gegeneinander, sondern miteinander zu lesen. Die Arbeit ist gut recherchiert, das Gespräch mit der Forschung freundlich, engagiert und doch dabei eigenständig und kritisch, eine Freude zu lesen. Der größte Gewinn ist, dass es das Wellhausensche Modell an so vielen Stellen angreift, dass eine Revision zum Verhältnis der Gesetzeskorpora fällig ist. Das anzustoßen ist das wichtigste Verdienst Kilchörs.
Klaus Riebesehl, Lehrer für Altes und Neues Testament am Theologischen Seminar Rheinland