Systematische Theologie

Sven Grosse: Theologie und Wissenschaftstheorie

Sven Grosse: Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2019, Pb., VIII+306 S., € 59,–, ISBN 978-3-506-70168-8


Als Heinrich Scholz fünf Mindestforderungen aufstellte, ohne die nach seiner Auffassung eine evangelische Theologie als Wissenschaft nicht möglich sei, antwortete Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik, dass die von Scholz vorgetragenen Forderungen für die Theologie unannehmbar seien, ja dass es für die Theologie überhaupt nicht möglich sei, sich einem von außen an sie herangetragenen Wissenschaftsbegriff unterzuordnen. Grosse stimmt dem grundsätzlich zu. Die Zurückweisung eines solchen Wissenschaftsbegriffs für die Theologie lässt für ihn allerdings die Möglichkeit offen, „eine allgemeine Wissenschaftslehre zu schaffen, welche mit der christlichen Theologie in Übereinstimmung steht und von ihr ausgeht“ (2). Und genau dieses anspruchsvolle Projekt verfolgt er mit dem vorliegenden Werk. Dies führt dazu, dass er nicht nur untersucht, welche Kriterien für die Wissenschaftlichkeit der Theologie angemessen sind, sondern auch versucht, eine allgemeine Wissenschaftslehre zu entwerfen, ebenso eine Enzyklopädie der theologischen Disziplinen. Dabei bedenkt er das Verhältnis der Theologie zu Philosophie, Naturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Psychologie und Jura, stellt Überlegungen an zu Theologie in Kirche und Gesellschaft, setzt sich mit Systementwürfen des Idealismus und Wissenschaftstheorien des 20. Jhs. auseinander u. v. a. m. Grosse hat sich viel vorgenommen, etwas zu viel, wie ich meine, und der Leser steht in der Gefahr, den roten Faden der Darstellung zu verlieren. Ein solcher roter Faden ist aber durchaus erkennbar und auf diesen versuche ich mich im Folgenden zu konzentrieren.

Im ersten und umfangreichsten Teil seiner Arbeit („Wissenschaft und christliche Theologie in Konfrontation und Integration“, 7–111) setzt er sich mit den Postulaten von Scholz auseinander. Das Kohärenzpostulat (die Forderung, dass die Theologie als Wissenschaft einen zusammenhängenden Gegenstandsbereich haben muss), sieht G. in Übereinstimmung mit Augustinus, Thomas von Aquin, Luther und Barth als erfüllt an, ebenso das Satzpostulat (die Theologie muss in widerspruchsfreien, wahrheitsfähigen Sätzen formuliert werden). Dem steht nicht entgegen, dass Gott für uns Geheimnis bleibt. „Theologie kann … Wissen von Gott haben und auch aussprechen, obgleich Gott unbegreiflich ist“ (46). Auch die Forderung, dass nichts physikalisch und biologisch Unmögliches ausgesagt werden dürfe (Konkordanzpostulat), wird nach G.s Einschätzung faktisch von der Theologie erfüllt, selbst wenn diese mit Wundern rechnet. Hier müsse freilich darauf geachtet werden, dass die Naturwissenschaft die Grenzen ihres Forschungsbereiches respektiert und nicht zur Philosophie wird.

Nicht uneingeschränkt akzeptieren kann die Theologie die Forderung nach Freiheit von unzulässigen Denkvoraussetzungen (Unabhängigkeitspostulat), sofern darunter Denkvoraussetzungen verstanden werden, die nicht von allen geteilt werden. Hier stimmt G. Karl Barth zu und nimmt ihn gegen Kritik von Pannenberg in Schutz. „Barth sagt hier nichts anderes als die Tradition der christlichen Theologie, und diese beruft sich auf biblische Aussagen zum Thema: die Grundlage der Aussagen der christlichen Theologie ist der Glaube“ (100f). Auf dieser Grundlage geht sie dann aber, um mit den Worten Barths zu sprechen „einen bestimmten, in sich folgerichtigen Erkenntnisweg“ und ist „in der Lage, sich selbst und jedermann (jedermann, der fähig ist, sich um diesen Gegenstand zu bemühen und also diesen Weg zu gehen) über diesen Weg Rechenschaft abzulegen“ (KD I/1, 6). In diesem Sinne kann auch das Kontrollierbarkeitspostulat von Scholz erfüllt werden, d. h. der Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Sätze ist unter der genannten Voraussetzung nachprüfbar.

Im zweiten Teil des Buches (Die Theologie im System der Wissenschaften, 113–174) unternimmt es G., die Grundzüge eines Systems der Wissenschaften zu skizzieren. Dabei knüpft er an Hegel und Schelling an, die in ihren Systemen jeweils ihren Ausgangspunkt vom Wissen Gottes genommen haben. Sein Entwurf unterscheidet sich von den beiden zum einen dadurch, dass er Schöpfung nicht bestimmt als „Gott in der Form des Andersseins“ (146). „Schöpfung heißt, dass Gott als das vollkommene, schlechthin seiende Wesen aufgrund eines Entschlusses, der auch nicht hätte sein können, der also allein von seinem Willen abhängt, etwas anderem Existenz verleiht“ (145). Zum anderen werden Hegel und Schelling nicht der Inkarnation, dem „Kernpunkt des Christentums“, gerecht, „dass der Gott, der wirklich außerhalb der Zeit ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt menschliche Natur angenommen hat“ (153). Da Schöpfung und Inkarnation, die für das Verständnis der Wirklichkeit zentral sind, in den Gegenstandsbereich der Theologie fallen, steht diese in der Mitte der Wissenschaften. Die anderen Wissenschaften können von den Einsichten der Theologie profitieren, arbeiten aber in ihrem Forschungsbereich unabhängig.

Der dritte Teil (175–264) widmet sich der Binnenstruktur der Theologie als Wissenschaft. Unter Berufung auf Augustinus versteht G. Theologie als „ein Wissen von Gott, aber auch von der Schöpfung, das erworben wird durch eine Erkenntnis bestimmter Teile der Geschichte des Menschengeschlechts; diese Erkenntnis wird geleitet durch eine ‚Prophetie‘, die auf diese besondere Geschichte sich bezieht; diese Prophetie ist die Bibel“ (177). Für Theologie ist folglich konstitutiv die Beschäftigung a) mit der Bibel als Text, b) mit der von ihr bezeugten Geschichte und c) mit der Erkenntnis Gottes selbst. Damit hat sie Gemeinsamkeiten mit der Philologie, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie, geht aber insofern über diese Disziplinen hinaus, als sie die Offenbarung miteinbezieht. In Bezug auf die Philosophie heißt das für G.: „Die Theologie ist nichts anderes als Philosophie, als Metaphysik unter der Voraussetzung, dass Gott wirklich nur durch seine Inkarnation in Jesus Christus und durch die Inspiration, also ein Sprechen in der Heiligen Schrift erkannt wird“ (208).

Es folgen Überlegungen zu den einzelnen theologischen Disziplinen und im vierten Teil (265–286) zu Theologie in Kirche und Gesellschaft und zur Gestalt des Theologen.

Das Buch bietet eine Fülle von Überlegungen und ist auch da, wo man dem Autor nicht ohne weiteres folgen kann, auf jeden Fall anregend. Angesichts des umfangreichen Themengebietes wäre es müßig aufzuzählen, welche Themen und Autoren man hätte auch noch berücksichtigen können. G. ist im Allgemeinen gut informiert und sucht das Gespräch mit zahlreichen Denkern der Gegenwart und Vergangenheit. Die aus meiner Sicht wichtigste These des Buches – Theologie kann Erkenntnis von Gott gewinnen, wenn sie von Gottes Offenbarung ausgeht – halte ich für gut begründet. Und wenn diese These richtig ist, dann ist es sicher lohnend mit G. darüber nachzudenken, was das für die anderen Wissenschaften bedeutet. Ich halte sein Buch daher für einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft.


Dr. Ralf-Thomas Klein ist Lehrbeauftragter an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen.