Systematische Theologie

Christine Christ-von Wedel / Sven Grosse (Hg.): Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit

Christine Christ-von Wedel / Sven Grosse (Hg.): Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit, Historia Hermeneutica. Series Studia 14, Berlin: De Gruyter, 2017, geb., XVII+425 S., € 79,95, ISBN 978-3-11-046277-7


Reformationsjubiläen oder im zeitgenössischen Jargon auch Säkularfeiern der Reformation haben eine lange, ambivalente Tradition im Hinblick auf ihr Zeremoniell und den Ertrag der damit verbundenen Rhetorik und deren Erforschung. Die Tatsache, dass zum 500-jährigen Jubiläum ein Tagungsband erschienen ist, der, wenn auch nicht ökumenisch-interkonfessionell, so jedoch interdisziplinär und innerprotestantisch divers angelegt ist, würdigt den Sachverhalt neuzeitlicher Betrachtung dieses einschneidenden Phänomens. Schwerpunkt der Betrachtung ist die, nicht nur für die protestantische Auslegungstradition unterschiedlichster Couleur, fundamentale Fragestellung nach der Auslegung der Heiligen Schrift und der damit verbundenen Hermeneutik und ihrer Weichenstellungen. Der breitaufgestellte, internationale Autorenkreis sowie viele illustre Namen versprechen einen wichtigen Beitrag und erhellende Einsichten zu diesem Sujet. Tagungsort im Juni 2014 war die Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel, deren Zustandekommen sich der im Sammelband stets mitschwingenden fundamentaltheologischen Fragestellung nach Schriftgebrauch und -verständnis, hier in der Reformationszeit, verdankt.

Vorweggenommen werden darf, bevor Inhalte im Einzelnen herausgegriffen werden sollen: Der Leser wird nicht enttäuscht und erhält teilweise breit ausgeführte Darlegungen auf aktuellem Forschungsstand. Populär gewordene forschungsgeschichtliche Mythen, die scharf zwischen einem vorkritischen Schriftprinzip und einer modernen kritischen Methode differenzieren, erodieren hinsichtlich ihrer Grundlagen und Vereinfachungen. Altkirchliche und scholastische Auslegungstraditionen und -muster, interne Debatten zwischen reformatorischen und humanistischen Exegeten und die Nuancen der protestantischen Konfessionskulturen, die sich im Rahmen der exegetischen und bibelhermeneutischen Fragestellungen formierten, werden stattdessen präzise dargelegt. Auch die anabaptistischen Standpunkte, insbesondere eines Pilgram Marpecks, oder der Einfluss jüdischer Interpreten auf den Basler Hebraist Sebastian Münster fehlen nicht in diesem Sammelband. Die Stärke (und Schwäche?) des Bandes ist zugleich die Breite und der Detailreichtum der einzelnen Beiträge.

Gemeinsamer Nenner und inhaltlicher Leitfaden sind folgende Kriterien (Vorwort, Xf): 1. Die Auslegung einzelner Bibelabschnitte, z. B. von loci classici der überkommenen Auslegungstradition (Lk 10,38–42; Gal 2,11–14 usw.) oder auch ganzer Schriften, z. B. umstrittener Briefe (Röm, Jak, Hebr usw.) wird behandelt. 2. Herausragende Persönlichkeiten und ihre hermeneutischen Ansätze innerhalb des sog. Reformationszeitalters werden betrachtet. Hier werden nicht nur Allgemeinplätze bedient, sondern neben Luther, Erasmus und Melanchthon auch Bucer, Calvin, Bullinger, Comander, Marpeck, Münster, Cajetan und Estius gewürdigt. Natürlich ist die Auswahl um weitere zeitgenössische Exegeten beliebig erweiterbar, erwähnt sei nur auf Grund des Schweizer Kontextes Johannes Oekolampad und seine patristischen Expertisen oder der spätere Zürcher Petrus Martyr Vermigli. 3. Mit der konkreten Auslegung einzelner Bibelabschnitte sind zuweilen propädeutisch-hermeneutische Fragestellungen verbunden, wie z. B. die postulierte strenge Scheidung von Gott und Schrift bei Luther (Buchholz), das nachhaltige Verständnis von Exegese als Kunst des „rechten Schneidens“ nach 2Tim 2,15 (Danneberg), die häufige Verbindung von theologischer Arbeit und juristischer Vorbildung im Falle reformierter Schriftausleger (Strohm) oder auch der Gebrauch von Allegorese als (in-)probates Mittel und den Wert der historischen Analyse des Kontextes (Christ-von Wedel). 4. Das untersuchte frühneuzeitliche Material wirft die alte Frage nach der jeweiligen Gattung (Predigt, Kommentar, Vorlesung, Traktat, Flugschrift usw.) und deren Bedeutung für die Inhalte auf. Neben den Beiträgen von Sarah Stützinger und Jan-Andrea Bernhard, die dezidiert weniger bekannte Predigtliteratur untersuchen, sowie Andreas Mühling, der Bullingers genreübergreifende Trostschriften examiniert, tritt besonders der beide Medien – Wort und Bild – betrachtende Beitrag von Johann Anselm Steiger hervor, der auch im buchstäblichen Sinn medial glänzt. 5. Begrenzt wurde die Auswahl auf die sog. Epoche der Reformationszeit; die Begrifflichkeit ist inzwischen zu Recht in Frage gestellt worden auf Grund der nicht immer einleuchtenden Grenzziehungen und einer oft polemisch bestimmten Überbetonung der theologiegeschichtlichen Diskontinuitäten (vgl. hierzu nur die Artikel – hier in Kurzform – von Thomas Kaufmann, VuF 47, 2002, 49–63; Berndt Hamm, ZHF 39, 2012, 373–411 und neuerdings Volkmar Ortmann, SVRG 218, 2017, 332–344). Im Sammelband wird dem, neben dem ständigen Rekurs auf die altvorderen Autoren wie antike Schriftsteller, Kirchenväter, Monastiker, Scholastiker usw., Rechnung getragen, indem auch die teilweise Rezeption rabbinischer Exegese und die Auseinandersetzung mit den altgläubigen, romtreuen Theologen behandelt wird. Vorhandene Desiderate in dieser Richtung deutet einer der Herausgeber des Bandes allerdings an (XI).

Zu den unterschiedlich gearteten Beiträgen nun einige Bemerkungen, es ist dabei weder möglich noch intendiert alle zu besprechen und somit angemessen zu würdigen. Nach den beiden einführenden und grundlegenden Artikeln von Sven Grosse und Ulrike Treusch, zum einen zur integralen Römerbriefexegese bei Origenes, Thomas von Aquin und Luther (3–26), zum anderen zum monastischen Erbe Luthers und dessen gebrochener Rezeption innerhalb des reformatorischen Transformationsprozesses (27–43), folgt eine postume Veröffentlichung der Antrittsvorlesung von Armin Buchholz an der FTH Gießen (47–67). Ein prägnantes Lutherwort innerhalb seiner Replik auf die Diatribe Erasmus’ steht im Mittelpunkt, die folgenreiche, schöpfungstheologisch begründete Distinktion zwischen Gott und Schrift, die ihn skriptologisch zu ganz anderen Ergebnissen führe als Origenes und in dessen Gefolge Erasmus. Die in sich kohärente und ausgefeilte Argumentation regt zu Diskussionen an, nicht nur im Hinblick auf die strenge Konzentration auf ein markantes Lutherzitat, das sehr wohl situativ betrachtet wird, jedoch somit zu einem Verdikt avanciert (vgl. das Vorwort, XIII und die Selbsteinschränkung unter 58f, Anm. 43).

Jason D. Lane und Sarah Stützinger widmen sich den Problemschriften für lutherische Hermeneutik und deren Verarbeitung, nämlich dem Jak und dem Hebr als vieldiskutierte kanonische Infiltrate. Erfreulicherweise werden stereotype Vorstellungen korrigiert oder zumindest präzisiert, wie anhand der nicht restlos negativen Deutung der „strohernen Epistel“ im Anklang an 1Kor 3,10–17 deutlich wird (111–124, bes. 119–122) sowie die geläufige Inanspruchnahme von Hebr 9 und der dort versammelten, oft kontroverstheologisch genutzten Opfermotive in lutherisch geprägter Homilie des 16. Jahrhunderts demonstriert (125–145).

Zentral gelegen und in jeder Hinsicht gediegen ist der sehr ausführliche Beitrag zu Melanchthons grundtextnaher Deutung von 2Tim 2,15 („tractare“ versus „secare“) und deren weitreichende Wirkungsgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert (147–212). Der mit detailreicher Quellenkunde glänzende Beitrag von dem Herausgeber der Reihe Historia Hermeneutica, Lutz Danneberg, überschreitet zuweilen innerdisziplinäre, in der Frühen Neuzeit so noch nicht vorhandene, Grenzen durch die stete Verortung der philologischen Erkenntnisse Melanchthons und seiner Rezipienten in der antiken und zeitgenössischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte. Als Quintessenz sei nur das kurze eingeschobene Resümee hinsichtlich der verhandelten Problemlage wiedergegeben (173): „Es ist der Weg von der divisio mit der partitio (in der Scholastik) über das retextere und resolvere zur analysis und von dort über das secare zur anatomia als Methode der Schriftauslegung.“

Der nachfolgende Blick auf lutherische Konfessionskultur in medialer Hinsicht ist erfrischend und unterstreicht, dass es nicht nur Bilderstürmer, sondern eben auch eine neue Bildästhetik mit geänderten Motiven gemäß der paulinischen Parole in Gal 3,1 gab. Ausführlich (228–239) wird – neben Johann Saubert – der selbstbewusste Nürnberger Prediger Johann Michael Dillherr betrachtet und ein vielsagender Titelkupferstich zu Beginn seines Andachtwerkes namens Augen= und Hertzens=Lust (Nürnberg 1661) analysiert. Die weitreichende theologische Fragstellung nach der dahinterstehenden Bildtheorie, hier bei Luther und im barocken Luthertum, wird zu Beginn und passim behandelt (213–220 [s. bes. 219, Anm. 28!], 227, 239). An dieser Stelle sei nur auf neuere, letztlich fundamental christologische Ansätze zu diesem Bildprogramm im Luthertum verwiesen, wie sie z. B. Hans-Joachim Iwand propagiert hat (vgl. nur Christian Neddens, „Das ‚Bild Jesu Christi‘ als hermeneutische Kategorie beim jungen Iwand“, in: Arnold Huijgen / Cees-Jan Smits / Eberhard Lempp (Hg.), Schuld und Freiheit. Festgabe für Gerard Cornelis den Hertog, Dortmunder Beiträge zur Theologie und Religionspädagogik 13, Berlin: LIT 2017, 187–210).

Nachdem das reformatorische Zentrum Wittenberg und seine Ausstrahlungen untersucht wurden, folgen nun die reformierten Agenten und ihre Wirkungsstätten. Heinrich Bullinger wird zuerst betrachtet, und zwar von zwei ausgewiesenen Experten für sein Genre. Zum einen von Luca Baschera, der sich als neuer Editor der Bullinger-Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen wohlverdient gemacht hat und sich der innerreformatorischen Deutung des Apostelstreites (Gal 2,11–14) als, der altkirchlichen Tradition folgend, consensus apostolorum widmet (243–263). Darauf folgt Andreas Mühling, der die Hl. Schrift als Trostquelle bei Bullinger betrachtet (265–280). Einmal mehr tritt die konsequente Schriftbezogenheit von Bullingers kirchlichem und gesellschaftlichem Handeln hervor (266) und die diskutable These, dass letztlich jede Form von Schriftauslegung gattungsunspezifisch zur Trostschrift in Bullingers literarischem Portfolio wurde (269).

Gewinnbringend zu lesen ist der Beitrag von Andreas J. Beck über Martin Bucer als Exeget, hier insbesondere des Röm und der inkludierten paulinischen Prädestinationslehre. Neben dem Faktum, dass eine neuzeitliche, kritische Edition seines Opus magnum, nicht nur als Hilfsmittel für die reformationsgeschichtliche Forschung, noch aussteht (283f), muss auch immer wieder auf die maßgebliche, hochreflektierte Beeinflussung der Theologie Calvins durch seinen Straßburger Mentor Bucer hingewiesen werden (288, 292). Vorbildlich zum Verständnis schwieriger Theologumena wie der sog. Prädestinationslehre sind eingestreute kurze Exkurse, die z. B. unterschiedliche geistesgeschichtliche Denkkategorien aufzeigen, wie das scholastische causa-Denken im Unterschied zu modernen Kausalitätsmodellen, und somit Missverständnissen und anachronistischen Fehlschlüssen entgegenwirken (296).

Eine aufschlussreiche Analyse der Predigten aus den Jahren 1545/46 des Bündner Reformators Johannes Comander folgt, die unter Beweis stellt wie aufschlussreich eine Untersuchung, hier der reformierten (Mikro-)Konfessionalisierung im Freistaat der Drei Bünde, sein kann, wenn man a) weniger bekannte reformatorische Persönlichkeiten und deren literarische Produktion wählt und b) den jeweiligen Sitz im Leben sorgfältig beachtet (301–331, bes. 314). Der souveräne Strohm’sche Beitrag zur Theologie und Jurisprudenz reformierter Theologen und deren hermeneutische Konsequenzen für die Schriftlektüre und die Interpretation des überkommenen Zivil- und Kirchenrechts muss hier nicht näher erläutert werden; er empfiehlt sich selbst zur Lektüre (333–356).

Unter dem Stichwort „Querverbindungen“ schließt der Tagungsband ab und entfaltet wiederum neue Einsichten zu altbekannten Themen: Der scheinbar unkritische Gebrauch der Allegorese bei Erasmus (im Vergleich zu Luther) wird hinterfragt und neu situiert (375f, 378f), die Bibelhermeneutik der Täufer wird anhand des eher unspektakulären Lebens Pilgram Marpecks einer frischen Analyse unterzogen, insgesamt werden Forschungsmythen durch den mennonitischen Theologen und Mitarbeiter der HAdW, Stephen E. Buckwalter, aufgezeigt und entkräftet (s. bes. 382, 384). Die nach wie vor bestehende Aktualität der grundlegenden hermeneutischen Gewichtung von Altem und Neuen Testament als bleibendes Vermächtnis der reformatorischen Debatten mit den Nonkonformisten wird am Schluss noch kurz erwähnt (390f). Sebastian Münsters selektiver Umgang mit den jüdischen Interpreten und deren Kommentaren auf der Suche nach sprachwissenschaftlicher Exzellenz auf der Höhe seiner Zeit wird im letzten Beitrag konturiert. Die Anfragen Erasmus’ aus eher philologischen und translatorischen Gründen (396), sowie der Widerspruch Luthers aus eher theologischer Perspektive werden dabei erwähnt (403).

Der Band enthält – nota bene – mehrere hilfreiche Register, auch wenn die gemeinsame Nennung von klassischen Namen und modernen Autoren im Personenregister Geschmackssache ist. Redigiert wurde er in hervorragender Weise, der Rezensent konnte nur wenige formale Fehler ausmachen (s. 14, 48 Anm. 3, 58, 116 Anm. 19, 150, 163 Anm. 64; 164 Anm. 70, 173, 202, 259, 279, 287, 297, 375). Äußerst großzügig ist der Tatbestand, dass das gesamte Werk frei zugänglich ist im Open Access-Verfahren auf der Website des Verlags und so keine pekuniären Hindernisse aufkommen können. Es bleibt dem Tagungsband nur weite Verbreitung zu wünschen, angesichts der häufig ventilierten, oft hartnäckigen Vorstellungen bzgl. des Reformationszeitalters und der damit verbundenen Auslegung und Hermeneutik der Bibel in jener bedeutsamen Etappe.


Dr. Thomas Klöckner ist Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Kaiserslautern.