Walter Dietrich: Samuel
Walter Dietrich: Samuel. 1 Samuel 27 – 2 Samuel 8,BKAT VIII/3, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, geb., 774 S., € 150,–, ISBN 978-3-7887-3365-0
In seinem dritten Samuelband zeichnet Walter Dietrich, emeritierter Professor für Altes Testament an der Universität Bern, den Aufstieg Davids zum König nach (1Sam 27–2Sam 8). Dietrich gliedert 1Sam 27–2Sam 8 in drei Abschnitte: „Sauls Ende, Davids Überleben“ (1Sam 27–2Sam 1), „Davids Aufstieg zum König einer Doppelmonarchie“ (2Sam 2,1–5,16) und „Davids Regierung“ (2Sam 5,17–8,18). Zu diesen drei Abschnitten werden jeweils in einer kurzen Einführung wichtige übergreifende Fragen analysiert: Nach der Auflistung wichtiger Literatur werden formal-literarische und historische Aspekte der Abschnitte überblicksartig zusammengefasst. Besonders hilfreich ist hier, dass Dietrich wichtige Ergebnisse der Forschung zu den Besonderheiten dieser Kapitel festhält. Zu 1Sam 27–2Sam 1 werden außerdem zentrale erzähltechnische Überlegungen zu Saul und David sowie den Orten der Erzählungen in eigenen Unterabschnitten zusammengestellt.
Wie die ersten beiden Bände (2010, 2015) zeichnet sich auch der vorliegende Band durch eine wesentlich stärkere Berücksichtigung von synchronen Perspektiven aus, als es für die Reihe Biblischer Kommentar zum Alten Testament üblich ist. Wenig überraschend werden diachrone Erwägungen ausführlich behandelt.
In der Frage der Entstehung von 1Sam 27–2Sam 8 knüpft Dietrich nahtlos an seine bisherigen Forschungsbeiträge an: Vorliegende Überlieferungen zusammenfassend, habe das höfische Erzählwerk ein Geschichtswerk konzipiert, welches sich intensiv mit der Nord-Süd-Thematik auseinandersetzt. Diese Gesamterzählung sei dann im Rahmen des Schichtenmodells zum Deuteronomistischen Geschichtswerk umfassend modifiziert und erweitert worden (Göttinger Schule).
Deutlich wird dies am Beispiel von 2Sam 7: Dieses Kapitel gehe ursprünglich auf ein Dynastieorakel zurück (12aαβ.14.15a.17b), dessen Ursprung nicht mehr rekonstruiert werden könne, das aber spätestens um 700 v. Chr. bekannt gewesen sei. Mit dem Kristallisationspunkt Daviddynastie bzw. Königtum spreche es dem den Thron besteigenden Herrscher den Status eines „Sohnes Jhwhs“ zu (648). Im Rahmen des höfischen Erzählwerkes sei dieses Orakel in die Erzählung um die Dynastiezusage eingebettet worden. 2Sam 7 sei dann in der exilischen und frühnachexilischen Zeit durch deuteronomistische Redaktionen entscheidend geprägt worden. Diese teilt er in zwei Stufen ein: eine frühe Redaktion (DtrH) (11b.13.16.17a.18–21.25–29) und eine späte (DtrN) (1b.4–8aα.10.11a.22–24). Angesichts der mit dem Exil untergegangenen Herrschaft der Dynastie Davids habe der deuteronomistische Historiker zunächst die Unverlierbarkeit der Dynastieverheißung und die Bedeutung des Tempelbaus hinzugefügt. Letztere sei dann aber wieder vom nomistischen Redaktor abgeschwächt worden. Eine Glosse in V. 6 rundet diese literarkritische Deutung ab. Bestandteile aus der Zeit Davids oder der frühen Königszeit enthält 2Sam 7 somit nicht, wenngleich nach Dietrich zumindest einzelne Motive dieser Zeit ihren Eingang in die spätere Überlieferung gefunden haben könnten (649).
Zur Historizität des davidischen Großreiches äußert sich Dietrich – für manchen wohl überraschend – wohlwollend differenziert: Er lehnt die weitverbreitete Forschungsposition ab, wonach Davids Großreich nicht existiert habe und vielmehr eine viel spätere literarische Fiktion sei (513). Ausgehend vom nach Dietrich realistischen und davididenkritischen Motiv der Auflehnung der nordisraelitischen Stämme gegen die auferlegten Fronlasten (1Kön 12) folgert er, dass dieses Ereignis ebenso wie die vorherige Personalunion beider Gebiete historisch sei (513). Diese Reiche stellt er sich als Klientelkönigtümer mit einer bescheidenen Administration und einem wesentlich mächtigeren Militär vor. David und Salomo hätten über ein Gebiet „vom Libanon bis in den Negev“ (515) geherrscht, wenn auch die Kontrolle über die einzelnen Regionen unterschiedlich schwach ausgeprägt war.
Wie auch immer man zu dieser diachronen Einordnung stehen mag, interessanter dürften für viele Dietrichs synchrone Beobachtungen sein. Für die Reihe BKAT ungewöhnlich detailliert wird die Erzähltechnik der Texte immer wieder näher analysiert. Prägend sind hier insbesondere Fokkelman und Bar-Efrat. Hier finden sich wertvolle Perspektiven für ein synchrones Lesen der Texte in zahlreichen Beobachtungen: Bspw. der Entwicklung der Charaktere Saul und David sowie der „geografischen Linienführung“ von 1Sam 27–2Sam 1 (2–5) oder auch zur erzählten Zeit (40). Gerade die Einzelverskommentierung („Wort“) ist in einem großen Umfang von diesen literarischen Erkenntnissen geprägt. Dietrich gelingt es z. B. in 1Sam 29,1–11 eindrücklich die Ambivalenz des Textes herauszustellen: Auf der einen Seite wird David von Achisch hoch gelobt und als vertrauenswürdig befunden, um in der anstehenden Schlacht gegen Saul und Israel auf Seite der Philister zu kämpfen. Auf der anderen Seite gelingt es Dietrich durch eine genaue Analyse der narrativen Elemente die Spannung aufzuzeigen, die sich hieraus ergibt: Wie kann es sein, dass David bereitwillig mit dem Erzfeind gegen sein eigenes Volk in die Schlacht ziehen will? Ist es wirklich positiv, wenn David von einem Philisterkönig so hochgeschätzt wird? Dietrich zeichnet hier ein viel differenziertes und tiefer gehendes Bild, als man es in anderen Kommentaren (z. B. Tsumura) findet. Dies gelingt ihm insbesondere durch die oft exkursartige Wiedergabe anderer Exegeten. Als Leser des Kommentars hat man so die Chance, sich einen guten Überblick über die Forschung und die Perlen anderer Kommentare zu verschaffen. In 1Sam 29,1–11 rezipiert er bspw. Brueggemann, McKenzie und Riecker länger.
Eine besondere Stärke des Kommentars liegt in Dietrichs ausführlicher Behandlung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte im Anschluss an die Kommentierung. Prägend sind hier die Ausführungen von Flavius Josephus, der mit weitem Abstand (30×) vor Johannes Calvin (7×) und Stefan Heym (6×) rezipiert wird. Insgesamt zeichnet Dietrich in den meisten Kapiteln ausführlich die Rezeption in der Theologie, aber auch den Künsten nach. Hier gelingt es ihm eindrücklich, dem Leser neue Perspektiven aufzuzeigen und diese miteinander ins Gespräch zu bringen. Teils wird auch in der Kommentierung auf Josephus u. a. Bezug genommen. Gelegentlich kann dies etwas anekdotenhaft oder gar irritierend wirken: Zu 1Sam 30,17 stellt er richtig fest, dass der Tagesanbruch ein klassischer Angriffszeitpunkt ist. Dies belegt er mit 1Sam 11,11 und der Mescha-Stele Z. 15. Inwiefern die folgende kurze Darstellung zum Beginn des Zweiten Weltkrieges hier sinnvoll hineinpasst (128 FN 27), erschließt sich auf den ersten Blick nicht, bedürfte aber in jedem Falle einer klareren Einordnung. Die große Stärke von Dietrichs Kommentar liegt wohl zweifellos darin, dass er verschiedene Bereiche der Exegese (wie die Textkritik, Archäologie, Literarkritik, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, u. v. m.) umfangreich anwendet und zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Damit gelingt ihm ein wesentlich umfassenderer Blick auf den Text als vielen anderen Kommentatoren, der seine Leser mit wertvollen Einsichten bereichern dürfte. Insgesamt legt Dietrich einen sehr empfehlenswerten Kommentar vor, der nicht nur die deutschsprachige Forschung für lange Zeit begleiten und prägen dürfte.
Christian Hilbrands, Doktorand an der Theologischen Universität Kampen, Niederlande