David Toshio Tsumura: The Second Book of Samuel
David Toshio Tsumura: The Second Book of Samuel,NICOT, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK: Eerdmans, 2019, Hb., 374 S., € 48,–, ISBN 978-0-8028-7096-4
Nachdem der Kommentar zum ersten Samuelbuch bereits 2007 erschienen war (vgl. JETh 22, 2008, 177–179), liegt hiermit das Samuelbuch in dieser Kommentarreihe vollständig vor. David Toshio Tsumura lehrt Altes Testament am Japan Bible Seminar in Suginami, Tokyo. 1973 promovierte er in den USA an der Brandeis University mit der Arbeit The Ugaritic Drama of the Good Gods: a philological study (Ph.D.). Semitische Sprachforschungen blieben seither sein Interessenschwerpunkt. Da der Text des Samuelbuches bekanntermaßen sehr viele sprachliche und textkritische Besonderheiten und Fragen aufwirft, bekam er 1990 die Anfrage zur Mitarbeit in der NICOT-Reihe mit genau diesem Schwerpunkt, den Text des Samuelbuches sehr sorgfältig zu analysieren und zu übersetzen.
Dies ist ihm wie bereits im ersten Band wieder gut gelungen. Während frühere Kommentare gerne der häufig abweichenden Lesart der LXX den Vorrang gaben, sucht David Tsumura zunächst den masoretischen Text zu verstehen und hält ihn meistens für ursprünglich und geht für die Übersetzung von ihm aus. Die aus den Qumranfunden bekannten Fragmente zu Samuel bezieht er jeweils in die Überlegungen mit ein. Viele Ketib-Qere-Abweichungen und Textvarianten der Manuskripte, die andere Kommentare gerne durch kreative Vorschläge zu „verbessern“ suchten, versteht er als phonetisch begründet. Samuel ist für ihn vor allem ein zu hörender Text. So gelesen erklären sich viele der Auffälligkeiten und werden verständlich.
In der sorgfältigen Textwahrnehmung und einer genauen Übersetzung liegen die Stärken dieses Kommentars. Allerdings entscheidet er die Präferenz textkritischer Entscheidungen jeweils in jedem Einzelfall je neu, mit deutlicher Neigung zum MT. LXX-Präferenz liegt z. B. in 2Sam 21,8 vor, wo statt „Söhne der Michal“ (so MT) mit der LXX „Söhne der Merab“ gelesen wird, weil das so – wie jeder aufmerksame Leser schnell erkennt – sachlich richtig ist Die Ehe Michals mit Paltiel war ausdrücklich als kinderlos genannt (2Sam 3,15; 6,23) und der Vater der Getöteten war der Gatte Merabs (1Sam 18,19), Michals Schwester. Dies war natürlich auch den masoretischen Tradenten bewusst, die trotzdem von Michals „Söhnen“ schreiben. Dahinter sind dann wohl literarische Gründe zu vermuten, die die Bedeutung dieser Tötungen für Michal fokussieren sollen. Der Rezensent hält deshalb auch in diesem Fall die MT-Lesart für richtig. Sie ist als abschließende von sechs Erwähnungen der Tochter Sauls, die David geliebt hatte, aussagestark und intendiert. Eine solche literarische Möglichkeit wird im Kommentar gar nicht erwogen.
Wie schon im ersten Band werden gelegentlich Psalmen aus dem Psalter bei der Interpretation mit einbezogen – nicht etwa als ein Vergleichstext, sondern zur Erläuterung dessen, worüber Samuel berichtet. So wird vor der Kommentierung der Überführung der Bundeslade nach Jerusalem in 2Sam 6 der Psalm 132 gelesen (107ff). Zur Bathsebageschichte (192) werden aus Ps 51 die Verse 1–2 und 16–19 zitiert. Oder zur Dynastieverheißung in 2Sam 7 wird eine Auswahl von Versen aus Ps 89 angeführt (V. 1–4.19–21.24.28–35), letztere des Begriffs „Bund“ wegen (so in Ps 89,3.28.34), der im Zusammenhang von 2Sam 7 und der Nathansverheißung nicht auftaucht (120). Diese Aufnahme von Texten aus anderen Büchern irritiert, scheint doch ein Bewusstsein für die literarische Einheit im Samuelkorpus zu fehlen. Die Auswahl weniger Verse kann kaum dem Verständnis der zitierten Psalmen gerecht werden, geschweige denn ihrer Stellung und Funktion im Buchaufbau des Psalters, noch wird sie der Auswahl und dem Zusammenspiel der Angaben im Samuelbuch literarisch gerecht. Dies zeigt sich auch an vielen anderen Stellen als überraschende Schwäche der Kommentierung: die Abwesenheit eines Gespürs für literarische Formate.
Ähnlich werden in der fortlaufenden Kommentierung zu Samuel, abgesehen von der sorgfältigen Diskussion der Übersetzung von Vers zu Vers, so gut wie gar nicht literarische Elemente wahrgenommen, die die Einheit des Buches und seine Botschaft untersuchen. Erzählbögen, Charakterisierungen von Personen, theologische Tendenzen und literarische Verbindungen bleiben unsichtbar. Der Kommentar untersucht Verse und Begriffe, erkennt aber das daraus geschaffene Gebäude nicht mit seinen Bezügen und Querverweisen, die den so reichen literarischen Raum ausmachen. Obwohl die Mehrheit der jüngeren Kommentare zu Samuel gerade diesen Zusammenhängen große Aufmerksamkeit gewidmet hat, geht Tsumura so gut wie gar nicht darauf ein. Die Kommentierung bleibt reduziert und konzentriert auf eine oft fast formalistisch anmutende Übersetzung und Untersuchung einzelner grammatischer und philologischer Aspekte. So fleißig der Kommentar in der Beobachtung sprachlicher Details ist, so wenig Verständnis vermittelt er für eine Sicht auf die Schönheit der Literatur und thematische Zusammenhänge.
Selbst Totenriten, die unserer Kultur eher fremd sind, werden kaum im Kontext der Umwelt erläutert. So wird die Bestattung der Gebeine Sauls und Jonathans berichtet, nachdem sie vorher „gebrannt“ worden waren. Selbst wenn man dieser Übersetzung zustimmt – Hertzberg liest, dass sie gesalbt wurden, nicht gebrannt –, so ist angesichts des Horrors, der mit einer Kremation in der Kultur normalerweisen verbunden ist (vgl. Amos 2,1; 2Chr 34,5 bis Jer 19,5), nichts erwähnt. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Behandlung der Gebeine der Sauliden mit Feuer als weiterer Aspekt der Tragik ihres Schicksals anzusehen ist, auch wenn es sich bei dem Verbrennen wohl um eine Art Reinigung ihrer von den Philistern misshandelten Körper zur Bestattung gehandelt haben mag. Dass dies im Kommentar statt mit dem kulturellen Kontext der Zeit mit heutiger Kremation in Japan verglichen wird, bei der auch immer wieder Knochenreste übrigbleiben (296), kann kaum überzeugen.
Ein Beispiel soll genügen, um zu zeigen, wie wenig literarische Aspekte erkannt werden. Zu der Verpflegungsliste Zibas für David auf der Flucht vor Absalom (2Sam 16,1) ist vermerkt, dass sie ähnlich zusammengestellt sei wie die der Abigail (1Sam 25,18). Dass darin aber ein das ganze Buch übergreifendes Thema aufgegriffen wird, bleibt unsichtbar. Hanna hatte in ihrem das Buch einleitenden Psalm von der Umkehrung der Verhältnisse gesungen: „Die da satt waren, müssen um Brot dienen, die Hungernden hungert nicht mehr“ (1Sam 2,5a). Das wird im Laufe des Buches vielfältig entfaltet. Während Sauls Hinterlassenschaft am Buchende eine Hungersnot war (2Sam 21,1), gibt es bei David aus Bethlehem (= Brothaus) immer wieder reichlich zu essen mit detaillierten Lebensmittellisten. Er wird von Abimelech in Nob (1Sam 21,7) versorgt und von Abigail, er teilt dem ganzen Volk aus (1Sam 30,24; 2Sam 6,19) und auf der Flucht vor Absalom bekommt er Brot durch Ziba und durch Barsilai (2Sam 17,28–29). Dies ist narrativ vermittelt als Zeichen des deutlichen Segens Gottes zu werten. David selbst versorgt Notleidende (1Sam 22,2; 30,12), selbst den Enkel Sauls (2Sam 9,7). Solche und ähnliche literarische Aspekte gibt es viele, sie machen die narrative Schönheit der Geschichten im Samuelbuch aus, im Kommentar jedoch wird der Leser so gut wie nirgends auf sie aufmerksam gemacht.
Der abschließende Psalm in 2Sam 22 wird in eine frühe Zeit Davids datiert, als er auf der Flucht vor Saul war. Selbst wenn das zutreffen sollte, was nicht begründet wird, blickt er jedoch in seiner jetzigen Stellung im Buch und mit der Überschrift „Als Jhwh ihm Ruhe gegeben hatte von allen Feinden ringsum und aus der Hand Saul“ auf alle im Buch berichteten Kämpfe zurück von der Frühzeit bis zu den Bürgerkriegen unter Absalom und Scheba. Als großer Schlussdank Davids steht er zudem in Parallele zu dem Psalm der Hanna und bildet mit diesem eine Inclusio. Das ist jedoch kein Thema der Kommentierung. Da geht es um einige textkritische Beobachtungen im Vergleich mit Ps 18. Jedoch dienen beide Psalmen der einleitenden und abschließenden theologischen Interpretation der narrativen Teile des Buches in doxologischer Form. Solche das Buchganze in den Blick nehmende Perspektiven sind im Kommentar jedoch völlig abwesend. So wird auch nicht sichtbar, dass die letzten Worte Davids 2Sam 23,1–7 im Buchaufbau einen Kontrast zu den Totenklagen über die Sauliden bilden (2Sam 1,19–27; 3,33–34), wie auch dass die Schlusskapitel eine abschließende Gegenüberstellung der beiden Gesalbten Saul und David abbilden. Wer einen Kommentar sucht, aus dem man theologische und homiletische Anregungen bekommt, wird sicher in anderen mehr Anregung finden. Als Kommentar, der die oft diffizilen Sprachprobleme diskutiert, ist er aber wichtig und wird einen verdienten Platz in der Samuelinterpretation einnehmen. Die sehr einseitige Fokussierung auf die Diskussion der Übersetzungsfragen ist wohl vom Autor beabsichtigt.
Dr. Herbert H. Klement, Prof. em. für Altes Testament an der STH Basel und der ETF Leuven