Altes Testament

Christoph Dohmen: Exodus 1–18

Christoph Dohmen: Exodus 1–18, Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg: Herder, 2015, geb., 440 S., € 80,–, ISBN 978-3-451-26804-5

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Dohmen eröffnet seine beide Kommentarbände zum Exodusbuch mit grundsätzlichen Gedanken zur Anlage und Auslegungsart (Exodus 19–40, 20122) und zur Hermeneutik des Kommentars (Exodus 1–18, 2015). Ein Kommentar ist für ihn entscheidend als ein Text zu beschreiben, der sich auf einen anderen Text bezieht (Exodus 1–18, 46f). Dies unterscheidet Dohmen deutlich von innerbiblischen Auslegungen oder eingefügten Kommentierungen in biblischen Texten (47f). Die Hauptaufgabe eines Kommentars sieht er darin, dass es den „Bibeltext ,öffnen‘ [soll], um heutigen Menschen eine eigene Beschäftigung mit den Fragen und Antworten des ihnen zumeist fremden oder fernen Textes zu ermöglichen“ (Exodus 19–40, 29).

Mit dieser Beschreibung liegt eine wesentliche Charakterbestimmung eines Kommentars in der Festlegung der Adressaten. Für Dohmens vorliegende Kommentare sind dies Menschen, „die Interesse an der Bibel, d. h. die die Texte für sich verstehen möchten“ (31). Man kann wohl daraus schließen, dass er diese Bände nicht den Fachkollegen widmet, sondern seine Aufgabe darin sieht, für einen weiteren Leserkreis Brücken zu bauen, gerade auch weil er keine Hebräischkenntnisse voraussetzt (vgl. 32). Mehr noch: er vermeidet deswegen (über weite Strecken) Fachdiskussionen: „die Fachwelt wird schnell erkennen, wer oder was hinter der Auslegung steht, und die ,normalen Leser‘ würde es nicht zu einem besseren Verständnis des Textes bringen“ (ebd.). Dohmen vermeidet außerdem die Rekonstruktion von Vorstufen des Textes, weil er die Aufgabe eines Kommentars darin sieht, sich mit der vorliegenden Textform auseinanderzusetzen (30). Diese versteht er als „Niederschlag einer lebendigen Auslegung“, die er als Leser in seiner Fokussierung auf die vorliegende Form „ernst nimmt“ (33). Damit grenzt er die Arbeit an einem Kommentar deutlich von Untersuchungen zur Textgenese, aber auch von Predigten ab.

Die Vermeidung von Fachdiskussionen wird nur an wenigen Stellen durch entsprechende Exkurse und kurze Erläuterungen außer Kraft gesetzt. Es erschließt sich dabei nicht immer, warum gerade diese Fragen von dieser Zielsetzung ausgenommen sind. Diese Zielsetzung würde ich aber noch einmal in ein Gespräch verwickeln wollen. Eine größere Anzahl von Verweisen, wie sich Dohmen in der Forschungsgeschichte und mit Blick auf andere Kommentare positioniert, würde allen Leser eine große Hilfe sein, die in das Gespräch mit anderen Kommentaren eintreten wollen. Von dem, was ich beurteilen kann, würde das den Wert von Dohmens Perspektive nicht schwächen, sondern vielfach stärken. Irgendwie setzt der Verfasser voraus, dass seine Leser entweder mit der Fachdiskussion soundso vertraut sind (und damit Dohmens Beitrag einschätzen können) oder keinerlei Interesse und/oder Gewinn davon tragen. Hier scheint es m. E. noch eine andere Perspektive zu geben: Menschen, die mit Gewinn in eine Fachdiskussion hineingezogen werden können, weil sie erkennen, wie bereichernd verschiedene Perspektiven auf einen Text sein können. Aber wahrscheinlich ist dieser Typus von Leser eher selten. Wahrscheinlich ist ein solcher dann auch ausreichend motiviert, weitere Kommentare als Gesprächspartner hinzuziehen.

Dohmens Fokus liegt auf dem Herausarbeiten einer Textstrategie, die er mit einem literaturwissenschaftlichen Interesse an der intentio operis und an dem „idealen Leser“ nachzeichnen will. Das Plädoyer für die intentio operis gründet Dohmen auf sein Textverständnis als gespeicherte oder verschriftete Sprechhandlungen im Anschluss an Konrad Ehlich, der den weiten Textbegriff der Linguistik auf diese Weise eingrenzen will. Auf diese Weise definierte Texte zeichnen sich „durch ihre sprechsituationsüberdauernde Stabilität“ aus (vgl. Exodus 1–18, 50f), sind auf Überlieferung bezogen und erfüllen ein spezielle Funktion in einer „zerdehnten Sprechsituation.“ Somit – und das ist ein weichenstellender Gedanken für Dohmen – findet „die Kommunikation nicht und niemals zwischen Sprecher (Autor) und Hörer (Leser)“ statt. Vielmehr müssen sich beide „(ausschließlich) auf den Text beziehen“ (52). Somit gilt: „Das, was der Autor sagen wollte (intentio auctoris), und das, was der Leser aufnehmen kann und will (intentio lectoris), kann sich nur im Text begegnen“ (52).

All diese Bemühungen führen Dohmen auf selbstverständlicher Weise zu seinem Verständnis des Textes. Er erhebt damit keinen Anspruch auf eine „wissenschaftliche Objektivität“, wehrt sich aber auch dagegen, dass sein Verständnis zu Willkür in der Auslegung führt (Exodus 19–40, 32): „der Sinn eines Textes [ist] immer so vielfältig wie seine Leser, was nicht Beliebigkeit impliziert, aber Offenheit innerhalb der Grenzen der Interpretation“ (29). Hier wird der Anschluss an Umberto Eco sichtbar. Dohmens Fokussierung auf die vorliegende Textgestalt prägt beide Kommentarbände. Auf diese Weise gelingt es Dohmen, seine Leser beim Lesen des Bibeltextes anzuleiten sowie, sie mit vielen hilfreichen, anregenden und diskussionswürdigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu einem Gespräch über den Bibeltext einzuladen.

Das Interesse für die endgültige Gestalt des Bibeltextes und einer literarischen Perspektive drängt historische Fragen an den Rand. Dohmens Behandlung mancher historische Aspekte fällt mit gut acht Seiten unter der Überschrift „Literatur und Geschichte“ recht knapp aus (Exodus 1–18, 71–78), da dies in einem Textkommentar nicht geleistet werden kann; „seine Aufgaben und Stärken bestehen darin, den literarischen Charakter und die Aussagen des Textes zu erfassen und zu vermitteln“ (73). Mit einem längeren Zitat von C. Frevel, Grundriss der Geschichte Israels, aus Zengers Einleitung werden die entsprechenden Argumente für die Aussage „Der Exodus – so wie die Bibel ihn schildert – ist nicht historisch“ dargelegt. Hinsichtlich der Exoduserfahrung schlussfolgert Dohmen dann: „Die einfachste Erklärung ist die, dass Ägypten und Exodus Projektionen aus späterer Zeit sind“ (75).

Die Wertschätzung für seinen zweiten Band schlägt sich sicherlich darin nieder, dass nach einigen Jahren bereits die zweite Auflage nötig war, noch bevor der erste Band fertiggestellt werden konnte. Die bereichernden grundsätzlichen Reflexionen zur Gattung „Kommentar“ sind dabei sehr hilfreich. Man mag sogar hoffen, dass sie wegweisend für den einen oder anderen Kommentar sein werden. Sie schärfen den Blick für das, was von einem Kommentar erwartet werden sollte und was nicht. Das unabdingbare Verwiesensein auf den zu kommentierenden Text in seiner vorliegenden Form und das Erheben der intentio operis setzt dem Unternehmen klare Ziele. Damit reihen sich Dohmens Kommentare nicht nur in die Reihe der Kommentare (nach Zenger „die wichtigste Gattung bibelwissenschaftlicher Publikationen“) zum Buch Exodus ein, sondern sind meines Erachtens im Lichte der genannten Zielsetzungen einer der ersten, wenn nicht sogar, die erste Adresse. Sollten mich also Studierende wieder einmal nach dem einen Kommentar für ein Bibelbuch fragen, den ich empfehle, so könnte ich meiner Linie beim Exodusbuch untreu werden. Vielleicht würde ich dann die Antwort nicht mehr grundsätzlich oder nur sehr zögerlich verweigern …

 

Prof. Dr. Heiko Wenzel, Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen

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