Altes Testament

Thomas Levy, u.a. (Hg.): Israel’s Exodus in Transdisciplinary Perspective

Thomas E. Levy, Thomas Schneider, William H. C. Propp (Hg.): Israel’s Exodus in Transdisciplinary Perspective. Text, Archaeology, Culture, and Geoscience, Quantitative Methods in the Humanities and Social Sciences, New York: Springer, 2015, geb., XXVII + 584 S., € 101,64, ISBN 978-3-319-04768-3

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Dass der Neologismus transdisciplinary (seit 2003 auch mit trans- statt inter- möglich) hier mehr als nur modische Fassade ist, deuten schon die Umstände der Veröffentlichung des vorliegenden Konferenzbandes an: In der Reihe „Quantitative Methods in the Humanities and Social Sciences“ erschienen bisher zwei Einführungen in die Programmiersprache „R“ und eine Dokumentation der Entwicklung einer Online-Datenbank. Die Konferenz an der University of California, San Diego (UCSD) vom 31.5.–3.6.2013 war verbunden mit einer Ausstellung zum Exodus im Stil eines Zukunftsmuseums am Qualcomm Institut „Calit2“ auf dem Universitätsgelände. Das multimediale Setting dieser Ausstellung wird in drei Beiträgen dokumentiert (Teil III, S. 147–184).

Ganze 43 Beiträge – aufgeteilt auf neun Abschnitte – fasst der in durchgehendem Vierfarbdruck erschienene Band, die hier nur auszugsweise besprochen werden können. Im ersten Abschnitt kommen die fünf Hauptredner der Konferenz zu Wort: Nach Jan Assmann (Konstanz/Heidelberg) lässt sich die Gewalt in der Exodus-Erzählung als „founding violence“ deuten, welche radikale Übergänge begleitet, in diesem Fall den Übergang von Polytheismus zu Monotheismus. Der Ägyptologe Manfred Bietak (Wien) sieht einen historischen Hintergrund der Erzählung in dem Leiden von „Proto-Israeliten“ unter Ägypten gegen Ende des Neuen Reichs, sowie dem Transport von Baumaterial von Pi-Ramesse nach Tanis und Bubastis. Von einer Identifikation von Proto-Israeliten mit den Hyksos (vgl. Josephus, Ap I:26–31) rät er ab. Israel Finkelstein (Tel Aviv) untersucht, auf welchem Weg die nach seinem Verständnis nachexilischen Autoren Wissen über die in den Ortslisten der Tora aufgeführten Details der Reiseroute erlangten. Einiges könnte aus Berichten von Händlern aus dem Nordreich, erste Hälfte des 8. Jh., zusammengestellt worden sein. Vage Ursprünge reichen bis in die Zeit des 16.–10. Jh. v.Chr. zurück. Lawrence T. Geraty (Riverside, CA) bietet auf S. 60f einen hilfreichen Überblick über verschiedenste Datierungsvorschläge zum Exodus und damit verbundene Pharaonen. Ronald Hendel (Berkeley, CA) deutet das Lied am Schilfmeer (Ex 15) als ältesten Ausdruck eines ethnischen Mythos, welcher die Erinnerung an den Zusammenbruch Ägyptens in einen Sieg Jhwhs über das „Chaos“ Pharao umformt.

Die Beiträge von Teil II „Science-Based Approaches to the Exodus“ beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem Ausbruch des Vulkans Thera (Santorin in der südlichen Ägäis), welcher ins 17. Jh. v.Chr., aber auch ca. 1525 v.Chr. (Malcom H. Wiener) datiert werden kann. Der damit verbundene Tsunami und andere Folgen könnten die Exodus-Erzählung inspiriert haben. Rekonstruierte Karten der ägyptischen Küste vor ca. 4000 Jahren sowie ein Einblick in die mathematischen Grundlagen von Computersimulationen der Welle begleiten die Ausführungen. Michael W. Dee u. a. vergleichen aktuelle Datierungsvorschläge für Pharaonen des Neuen Reiches sowie kanaanitische Städte und den Thera-Vulkan mit Radiokarbonmessungen.

Teil IV widmet sich vor allem dem ägyptischen Kontext der Exodus-Erzählung. Bernard F. Batto möchte in der priesterlichen Darstellung einen mythischen Kampf Jhwhs gegen das Chaosmonster Pharao und einen Sieg über das Meer erkennen. Dabei muss er dem Einwand begegnen, dass P gewöhnlich eher eine „entmythologisierende“ Tendenz nachgesagt wird (191f). Susan Tower Hollis und Gary A. Rendsburg gehen auf Parallelen zwischen ägyptischen Traditionen und Eigenarten in Ex 1–15 (aber auch Gen und 1Sam) ein. Brad C. Sparks bietet auf S. 263–265 eine hilfreiche Übersicht über vorgeschlagene Parallelen zu ägyptischen Texten seit 1980. Er führt dabei auch auf, ob der Forscher den Exodus als (teilweise) geschichtliches Ereignis und/oder Mythos betrachtet. Hilfreich ist auch der Verweis auf den Aarne-Thompson-Uther Motif Index (ATU), der einen Hinweis darauf geben kann, ob es sich bei einer motivlichen Ähnlichkeit zweier Traditionen um eine Abhängigkeit oder ein allgemein beobachtbares Motiv handelt (274f). Scott B. Noegel zeigt, dass die beste Parallele zur Bundeslade nicht in der mesopotamischen oder arabischen Kultur, sondern in Ägypten zu finden ist.

Teil V ist der (stets quellenkritischen) literarischen Untersuchung der Texte gewidmet. Auf dem Hintergrund seiner Habilitationsschrift (2010) deutet Christoph Berner die Erzählung als Ergebnis nach-priesterlicher Fortschreibung eines ursprünglich priesterlichen Dokumentes. Es mag ihm nicht gefallen haben, dass Konrad Schmid Jakob Wöhrles (2012) Verständnis von P für überzeugender hält (334). Schmid gibt einen wertvollen Einblick in seine Sicht der weltweiten Situation der Forschung am Pentateuch, evangelikale Theologie ist dabei nicht auf dem Radar. Thomas Römer untersucht nicht die literarische Entstehung des Buches Genesis (so einleitend auf S. 305), sondern des Buches Exodus, insbesondere 3,1–4,18 und 6,2–8, Stephen C. Russell befasst sich mit Ex 18,13–26.

Der Beitrag von Baruch Halpern „Fracturing the Exodus, as Told by Edward Everett Horton“ fällt völlig aus dem Rahmen. Es scheint sich um eine Art dekonstruktivistisch ironisierenden reader response zu handeln (besagter Horton ist ein amerikanischer Komödiant aus den 1930er Jahren, der Text selbst schweigt zur Funktion des Namens im Titel). Bedauerlich, dass die Herausgeber in dem Vorwort zu diesem Artikel offensichtlich keinen Anlass gesehen haben, auf die Absicht des Textes einzugehen. Etwas erhellend ist die sichtbare „Performance“ des Vortrages, zugänglich wie auch alle anderen Vorträge der Konferenz in voller Länge auf https://www.youtube.com/calit2 in der Playlist „UCSD Exodus Conference“.

Teil VI berücksichtigt die Rezeption des Exodus bei Origenes und Augustinus (Joel S. Allen), Philo (René Bloch), Artapanos von Alexandria (Caterina Moro), im Islam (Babak Rahimi) und der jüdisch-heidnischen Polemik (Pieter W. van der Horst).

Teil VII ist der Funktion des Exodus als kulturellem Gedächtnis gewidmet. Gerade diesen Ansatz hinterfragt im einleitenden Beitrag William G. Dever, der indes die Frage nach den Fakten nicht aufgeben möchte („What Really Happened?“). Darum unterscheidet er drei Kategorien: Was wussten die Schreiber? Was bildeten sie sich ein? Was haben sie vergessen? Aren M. Maeir deutet den Exodus als „literary matrix of mnemo-narratives“ (S. 409). Donald B. Redford fragt nach möglichen Ursprüngen der Exodus-Tradition. Victor H. Matthews trägt biblische Erinnerungen an Ägypten zusammen. Zur Illustration der Frage nach Historizität führt der Mitherausgeber William H.C. Propp die Legende des „Engel von Mons“ aus dem ersten Weltkrieg an. Seiner Ansicht nach ist eine historische Untersuchung des Exodus nach heutigem Informationsstand nicht möglich: „the historian must avoid the Exodus, put it into a black box, lock it up, and then hide but not discard the key“ (436). „For the Exodus, we must simply resign ourselves to ignorance“ (429).

Nichtsdestotrotz fragen die Beiträge in Teil VIII nach den Umständen der Entstehung von „Israel“, erste außerbiblische Erwähnung auf der Merenptah-Stele, 1208 v. Chr.. Avraham Faust und Robert A. Mullins geben einen guten Überblick über die zur Zeit vertretenen Alternativen zu einem Exodus. Zwar wird oft eine kleine Exodus-Gruppe postuliert, grundsätzlich seien die „(Proto-)Israeliten“ jedoch Kanaaniter. Emmanuel Anati möchte Har Karkom mit Sinai identifizieren. Brendon C. Benz sieht aufgrund seiner Analyse der Amarna-Briefe nicht nur gesellschaftliche Außenseiter, sondern (auch) Insider in der Gruppe des späteren Israel vertreten. Daniel E. Fleming vertritt die Ansicht, dass es sich um Viehhalter handelte. Nadav Na’aman argumentiert für die Befreiung einer Gruppe von einem ägyptischen Joch, jedoch innerhalb Kanaans. Wenn er davon ausgeht, dass Amos und Hosea die frühesten Zeugnisse des Exodus darstellen (S. 528, vorsichtiger formuliert Römer auf S. 307), dann wäre es eine Untersuchung wert, die Abhängigkeitsrichtung gegenüber der Tora präzise zu bestimmen und einen relativ zuverlässigen terminus ante quem zu finden. Dies ist möglicherweise die Achillesverse einer nachexilischen Datierung der Exodus-Tradition in P (und nicht-P). Christopher B. Hays erkennt hinsichtlich des eigenen Landes eine gemeinsame „Drei-Zonen“-Ideologie in biblischen und ägyptischen Traditionen. Der als „Conclusion“ (Teil IX) bezeichnete Beitrag des Mitherausgebers Thomas Schneider (der Vergleich von Ex 12 mit einem ägyptischen Ritual zum Schutz des Pharaos vor der „Plage des Jahres“) hätte wohl auch in Teil IV verortet werden können.

Es fällt auf, mit welcher Sorge die Mehrzahl der Konferenzredner ausdrücklich jeden Verdacht von sich weist, mit dem eigenen Vortrag in irgendeiner Weise die Historizität der Exodus-Erzählung unterstützen zu wollen. Immer wieder wird hier auf den Mitveranstalter William H.C. Propp verwiesen, dessen Stimme eine große Autorität genießt. So zitiert ihn beispielsweise Harris zustimmend mit dem Urteil: „To believe that the Bible faithfully records a concatenation of improbable events […] demands a perverse fundamentalism, that blindly accepts the [..] accuracy of biblical tradition“ (Propp, Exodus 1–18, AncB, New York: Doubleday, 1999, 348, zitiert auf S. 98). Zwar ist es wieder schick geworden, von historischen Ereignissen auszugehen, welche die Erzählung inspiriert haben, doch das Wort „Historizität“ ist ein Tabu. Der Ägyptologe James K. Hoffmeier (Trinity Evangelical Divinity School, Deerfield/IL) beugt sich diesem Klima nicht, sondern findet einen nachahmenswerten Weg, ein solches Problem anzusprechen. Zum einen verweist er auf die historischen Wurzeln dieses Denkens in den Bereichen der Ägyptologie (Alan Gardiner und T. E. Peet in den 1930er Jahren) und biblischen Archäologie (William Dever in den 1970ern und 1980ern). Am Beispiel Gösta Ahlström zeigt er, was passieren kann, wenn Ägyptologen den Theologen das Feld überlassen. Sein Beitrag endet mit dem Ergebnis einer Umfrage unter Ägyptologen: Viele der Befragten scheuen davor zurück, sich zu einem Thema mit bedeutenden religiösen Implikationen zu äußern, weil es ihrer Glaubwürdigkeit schaden könnte. Doch alle befragten Ägyptologen glauben, dass der Exodus ein historisches Ereignis ist.

Bemerkenswert ist das wirklich leserfreundliche Layout des Konferenzbandes mit einführendem Abstract, zweispaltigem Text und zumeist recht aktuell gehaltener Bibliographie für jeden einzelnen Aufsatz. Ein Bibelstellenregister wird schmerzlich vermisst. Viele der vorgetragenen Thesen sind nicht wirklich neu, etwa wenn Jan Assmann über das kulturelle Gedächtnis, Monotheismus und Gewalt referiert. Der Wert dieses Bandes liegt für Alttestamentler jedoch in der Möglichkeit, mit einem Griff und wenig Aufwand (viele der Aufsätze umfassen nur zehn Seiten) einen differenzierten Einblick in den aktuellen historisch-kritischen Forschungsstand zum Thema zu gewinnen.

 

Dr. Siegbert Riecker, Dozent an der Bibelschule Kirchberg

 

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