Thomas Klöckner: Heinrich Alting (1583–1644)
Thomas Klöckner: Heinrich Alting (1583–1644).Lebensbild und Bedeutung für die reformierte Historiografie und Dogmengeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts, Reformed Historical Theology 56, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 431 S., Pb., € 79,99, ISBN 978-3-525-51699-7
Die vorliegende Studie zum bedeutenden reformierten Gelehrten Heinrich Alting (1583–1644) – einem „Vertreter der dritten Generation reformierter Theologen“ (33) – liefert neben einer ausführlichen Biografie vor allem eine Einordnung seiner Lehrtätigkeit und (posthumen) Veröffentlichungen im Umfeld der später so bezeichneten Dogmengeschichte. Die von Herman Johan Selderhuis betreute Untersuchung des als Prediger der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde in Kaiserlautern tätigen Verfassers wurde 2018 in Apeldoorn als Dissertation angenommen.
Die Arbeit stützt sich vor allem auf posthum veröffentlichte und noch unveröffentlichte Quellen, um das Leben des bisher noch kaum erforschten Protagonisten zunächst in Grundzügen darzustellen und anschließend seine bedeutendsten Werke zu analysieren. Der Fokus auf diejenigen Schriften, die sowohl ihrer zeitgenössischen Bedeutung als auch ihrer Rezeptionsgeschichte nach herausstechen, und die damit einhergehende Vernachlässigung seines im engeren Sinn katechetischen und kirchenpolitischen Wirken ist sicher angemessen. Die methodische und inhaltliche Einleitung überzeugt insgesamt (Kapitel 1).
Im zweiten Kapitel wird Alting in seine umfassenden Netzwerke eingezeichnet. Er stammt aus einer angesehenen Familie des Emder Exulantenmilieus, erhält bei seiner Ausbildung in Herborn ramistische Einflüsse, macht erste pädagogische Erfahrungen in Sedan und bewährt sich als Präzeptor dreier Wetterauer Grafen, bis er schließlich eine Professur in Heidelberg erhält. Die Zeit an der dortigen kurpfälzischen Universität wird mit Recht nicht nur hinsichtlich seines theologischen Wirkens als seine „Blütezeit“ (77) bezeichnet: Alting genoss als Hoftheologe auch weit über die Universität hinaus großes Ansehen, wie seine Entsendung als kurpfälzischer Delegierter an die Dordrechter Synode zeigt. Dort wurde ihm nach der englischen Delegation formal der zweite Rang zugewiesen und als herausgehobener Vertreter der Contraremonstranten genoss er „höchste Aufmerksamkeit“ (114). Diese Blütezeit fand jedoch mit dem Ausbruch des dreißigjährigen Krieges und der Flucht an die Universität von Groningen zumindest teilweise ein Ende. Doch auch dort führte Alting nicht nur Visitationen durch (166), sondern war als Revisor auch an der Statenvertaling, der neuen niederländischen Übersetzung der Bibel, beteiligt (169). In Heidelberg und Groningen zeigt sich also gleichermaßen „sein modern anmutendes Drängen auf eine an der Wirklichkeit der Kirche interessierte Theologie“ (177). Insgesamt kam Alting in seinem „von Unstetheit und Unruhe geprägte[n] Milieu“ (151) gewiss eine herausgehobene Rolle als „reformierter und d. h. in seinem Fall melanchtonianisch-calvinisch-ursinisch gesinnter orthodoxer Theologe“ (368) zu. Ein umfangreiches Orts- und Personenregister gibt beeindruckende Einblicke in die Netzwerke dieser Zeit.
Mit Blick auf die Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte ist dem Autor besonders dafür zu danken, dass er jeder Verlockung einer hagiographischen Überzeichnung Altings widersteht. Er weiß sehr wohl, dass es „kein grundsätzlich neuer, epochemachender Entwurf“ (350) ist, den Alting vorlegt. Seine Kompendien sind „etwas anspruchslos geratene Leitfäden, die der kurpfälzischen Prinzenerziehung dienten und dieser wohl auch genügten.“ (198) Die recht überschaubare Rezeptionsgeschichte von Leben und Werk könnte ihren Grund darin haben, dass Alting seine Theologia Historica (1664) nicht hat vollenden können, die doch wohl sein „Opus magnum“ (283) hätte werden sollen. Nach der biographischen Betrachtung „jenes Sitzes im Leben“ (335) wendet sich Klöckner dann dem Schwerpunkt des Wirkens Altings zu.
In der Behandlung der kirchen- und profangeschichtlichen Kompendien (Kapitel 3), besonders der Historia Ecclesiae Palatinae und der Theologia Historica (Kapitel 4) weist Klöckner kundig viele Parallelen zu früheren Werken und zu Zeitgenossen auf. Leitend ist die Frage nach der Neuartigkeit des durch Alting geleisteten Entwurfes, der differenziert zu beantworten ist. Er hat „als einer der Begründer der Auffassung von Dogmengeschichte als einer selbstständigen Disziplin neben der Dogmatik“ (15) zu gelten, obschon „freilich in einem noch vorkritischen und vormodernen Stadium“ (ebd). Inwiefern das Stadium tatsächlich als „vorkritisch“ zu gelten hat, sei an dieser Stelle dahingestellt. Die weiteren Ausführungen zeichnen jedenfalls eine Entwicklung nach, deren Richtungssinn treffend beschrieben wurde.
Die traditionelle Grundierung seiner Geschichtsschau zeigt sich im leitenden Begriffspaar von deformatio und reformatio, das die Struktur seiner Werke vorgibt (360). Allerdings zeigt er sich stärker an der Territorialgeschichte interessiert, vor allem in seiner Historia Ecclesiae Palatinae. Diese ist weniger martyrologisch und apokalyptisch. Vielmehr zeigen sich „theologische Entspannung und territoriale Aufwertung“ (364). Bezüge zur Heidelberger Irenik, insbesondere in der Vereinnahmung der Wittenberger Reformation und die Betonung der geschichtlichen Entstehung der Bekenntnisse, weisen hier den Weg. (272–275) Dieser gemäßigten Haltung entspricht, dass Alting in seiner reformierten Position nur mehr die „gereinigtere Variante innerhalb des konfessionellen Spektrums“ (271) sieht. Statt eines Dualismus aus reiner Lehre – Irrlehre macht Alting bloß quantitative Unterschiede aus, was indes nicht einen völligen Verzicht antilutherischer und antipapistischer Spitzen impliziert.
Für diesen angesichts der leidvollen Erfahrungen des Exilanten gemäßigteren Tonfall gibt es aber einen theologischen Grund. Denn es fällt auf, „dass der frühneuzeitliche Geschichtsschreiber im Rahmen seiner territorialgeschichtlichen Darstellung der historischen Prozesse auf die Einbeziehung von Gott und seinem Gegenspieler als unmittelbar beteiligte Agenten verzichten kann.“ (274) Wo das geschichtliche Geschehen nicht direkt an Gott als Autor rückgebunden wird, kann scharfe Wertung und deutliche Polemik unterbleiben. Ohne diese theologische Grundierung hätte die Historisierung der Dogmen keinen „Säkularisierungsschub“ (274) auslösen können, mit der sich die Trennung von der Profangeschichte anbahnt. In diesem „leisen Entstehungsprozess einer Ablösung des biblisch-reformatorischen Geschichtsbildes durch ein auf Empirie und Analyse historischer Vorgänge beruhendes Wirklichkeitsverständnis und dessen historiografische Einrahmung“ (364) sieht der Verfasser zurecht evolutionäre und nicht revolutionäre Entwicklungen. Zum geschichtlichen Verständnis dieser Entwicklung leistet diese Detailstudie einen bemerkenswerten Beitrag.
Als theologische und nicht bloß historische Arbeit zeichnet sich das Buch in seiner Systematisierung der Gedankengänge Altings aus, die sogar zu einem möglichen Kritikpunkt an dieser Entwicklung führen. Denn mit dem Ausscheiden Gottes als Handelnden wird nicht nur eine mögliche Verständigung mit dem Luthertum, sowie eine eigenständige Entwicklung der Profangeschichte möglich, sondern verliert die Geschichtsschreibung auch das „prophetisch-kontrafaktische Element“ (361). Alting behandelt seine Gönner aus dem kurfürstlichen Haus der Wittelsbacher in Heidelberger alles andere als kritisch. Inwiefern eine um Neutralität und Objektivität bemühte Geschichtsschreibung, die auf der Singularität der Ereignisse beharrt, tatsächlich Gegenwartsbedeutung entfaltet, ist eine m. E. offene Flanke nicht nur der Profangeschichte. Insgesamt liefert die Studie also eine ausgezeichnete, kritische Biografie Altings im Rahmen der gelehrten Netzwerke seiner Zeit, aber auch einige interessante Beobachtungen in diesem Werk eines „Vorläufers“ (23) der Disziplin der Dogmengeschichte, wie sie sich während der Aufklärung herausbildet. Die Schlussfolgerungen und Rekonstruktionen sind aber leider nicht immer vollständig klar. Die Frage nach den Gründen des Ausscheidens Gottes aus der direkten Akteursperspektive hätte etwa klarer und differenzierter untersucht werden müssen: Liegt es an der Hinwendung zur Territorialgeschichte, für welche die Bibel weniger Material bereithielt als die Universalgeschichte? Liegt es am Verlust des prophetisch-kontrafaktischen Momentes als Ausdruck der persönlichen Verbundenheit zum Herrschergeschlecht? Liegt es an der Sehnsucht einer Aussöhnung mit den anderen Teilen der reformatorischen Bewegung vor dem 30-jährigen Krieg? Diese Fragen hat der Autor der gelehrten Welt zumindest als Denkaufgabe mitgegeben. Für alle an der reformierten Geschichte dieser Zeit und an der Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaften Interessierten ist das Buch jedenfalls zu empfehlen.
Jan Reitzner ist Vikar in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Bexhoevede und hat seine kirchengeschichtliche Dissertation über die Rezeption der Apopthegmata Patrum im 12. Jahrhundert bei Prof. Dr. Tobias Georges (Göttingen) eingereicht. Er ist darüber hinaus Schriftleiter der theologischen Zeitschrift ichthys (ichthys-online.de).