Historische Theologie

John Barton: Die Geschichte der Bibel

John Barton: Die Geschichte der Bibel. Von den Ursprüngen bis in die Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta, 2020, geb., 717 S., € 38,–, ISBN 978-3-608-94919-3

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Das englische Original dieser deutschen Übersetzung erschien 2019 unter dem Titel „A History of the Bible. The Book and Its Faiths“. Der Autor John Barton, geboren 1948, war Professor für Bibelexegese an der Universität Oxford. Er beobachtet, dass die Bibel „in der christlichen Glaubenspraxis“ seit etwa 1960 an Bedeutung gewonnen hat (22). In diesem Buch beschreibt er die Entstehung der biblischen Bücher, deren Zusammenstellung als Hl. Schrift (also die Kanonsgeschichte), die Überlieferung der Texte (also die Textgeschichte), die Bibel-Interpretation in der Kirchengeschichte sowie die Bibel-Übersetzungen. Barton bedenkt die Fachliteratur intensiv mit; leider gibt es keine Fußnoten, sondern Endnoten – und diese werden für jedes Kapitel von vorne durchnummeriert. Das macht eine diese Endnoten miteinbeziehende Lektüre mühsam. Wertvoll sind die Register am Ende: Für Bibelstellen sowie für Orte, Personen und Sachen.

In Bezug auf die Entstehung der biblischen Bücher gibt es eine breite Palette von Ansichten. Wo ist Barton diesbezüglich einzuordnen? Er tritt nach eigener Aussage „für die moderne kritische Bibelwissenschaft“ ein (18). Das bedeutet konkret z. B.: Es sei „kaum eines“ der biblischen Bücher „das Werk eines einzigen Autors: Die meisten sind aus vielen verschiedenen Vorlagen zusammengesetzt“ (16). Barton ist skeptisch, wenn die Bibel von einer Kirche als Autorität für Glauben und Leben bezeichnet wird, denn die Bibel „ist eine bunte Sammlung von Materialien, von denen sich nur wenige direkt mit der Frage beschäftigen, was man glauben soll“ (17). Aber unabhängig von seiner persönlichen Einschätzung der Bibel stellt er fest, dass in GB und in Nordamerika eher solche Kirchen wachsen, die einen konservativen Zugang zur Bibel propagieren (23). Laut Barton ist „eine Aneinanderreihung von Vermutungen … keine Seltenheit in der Bibelforschung“ (277). Das erinnert an meine Bezeichnung „Theologie des Vermutens“, die ich für die liberale Theologie verwende (in meinem Buch „Auf der Suche nach dem historischen Jesus“, 2013, 17), im Unterschied zu einer konservativen „Theologie des Vertrauens“.

In Kap. 8 über die Evangelien ist für Barton die Möglichkeit, dass Jesus die Zukunft – etwa die Eroberung Jerusalems – vorhersagte, von vornherein kein Thema: „Das Matthäus- und Lukasevangelium enthalten eindeutige Verweise auf die Einnahme Jerusalems … und müssen daher später entstanden sein“ (251f). Barton geht davon aus, „dass selbst das Markusevangelium wenigstens etwa zwanzig Jahre später geschrieben wurde als die letzten Paulusbriefe“ (252). Wenn diese um 60 n. Chr. geschrieben wurden (es könnte auch später gewesen sein), dann wurde demnach das MkEv frühestens 80 n. Chr. geschrieben. Aber weiter oben legt Barton nahe, dass das MkEv (kurz) vor 70 n. Chr. geschrieben wurde (251) – das passt nicht zusammen.

Barton meint, dass der Bericht über die Mission und Verhaftung des Paulus in der zweiten Hälfte der Apg „so aufgebaut ist, dass darin an die Leiden Jesu erinnert wird“ (251). Ich kann darin jedoch kaum Ähnlichkeiten erkennen: Jesu Verhaftung mündete schon nach einem Tag in die Geißelung und Kreuzigung – über Paulus berichtet die Apg nichts vom Lebensende, und seine Gefangenschaft dauerte etwa fünf Jahre lang.

Bei der Darstellung des AT-Kanons in Kap. 9 erwähnt Barton in der Mischna berichtete Diskussionen zwischen Rabbis darüber, ob einige Bücher (vor allem Hohelied und Kohelet) „die Hände verunreinigen“. Barton äußert die interessante These, dass damit nicht in Frage gestellt wurde, ob diese Bücher kanonisch sind, sondern dass diese Unsicherheit (ob sie die Hände verunreinigen) darauf beruhte, dass in diesen Büchern der Gottesname JHWH fehlt (275). Barton meint, dass die deuterokanonischen Bücher im NT zitiert werden (285). Dafür bringt er jedoch keinen Beleg, sondern verweist bloß auf einen einzigen inhaltlichen Anklang: Er meint, dass der Aussage in Röm 5,12 (die Sünde kam in die Welt durch einen Menschen, und durch die Sünde der Tod, der dann zu allen kam, weil alle sündigten) die Weisheit Salomos 2,24 zugrunde lag: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“ (284f). Ob Paulus bei Röm 5 wirklich an diese Aussage aus der Weisheit Salomos dachte, scheint mir unsicher. Aber selbst wenn es sich so verhält, liegt in einer solchen nicht ausdrücklichen Bezugnahme kein Beleg dafür, dass er dieses Buch für kanonisch hielt. Ein Hinweis auf kanonische Geltung wäre es, wenn Paulus ausdrücklich zitieren würde, insbesondere mit der Einleitung „die Schrift sagt“ oder so ähnlich.

In Bezug auf die AT-Apokryphen (d. h. die deuterokanonischen Bücher) sagt Barton zuerst, dass u. a. „die Lutheraner … sie … als zweitrangig gegenüber der eigentlichen Heiligen Schrift ansehen“ (280), und sodann sagt er, dass sie u. a. in der katholischen Kirche „als uneingeschränkt biblisch behandelt, wenn auch … als zweitrangige Bestandteile der Heiligen Schrift“ (280f). Bei der katholischen Kirche trifft diese Aussage („zweitrangig“) nicht zu; in Aufzählungen der Bücher des ATs ist keine Unterscheidung erkennbar, und es wird auch nicht extra darauf verwiesen, dass bei Daniel und Ester die Zusätze mitgemeint sind (siehe z. B. im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993, Nr. 120). Barton weiter: „in den orthodoxen Kirchen des Ostens werden mehr Bücher anerkannt als in der römisch-katholischen Kirche, und noch mehr in Äthiopien“ (281). Diese Aussage über die „orthodoxen Kirchen des Ostens“ stimmt nicht; im Allgemeinen haben sie denselben Kanon wie die katholische Kirche (etwa in den Bibelausgaben), wobei aber einige der deuterokanonischen Bücher nicht im Gottesdienst verwendet werden. Im Kapitel über die Bibel und die Naturwissenschaft meint Barton, dass „die sogenannten Kreationisten noch heute“ die Meinung teilen, dass die Schöpfung im Jahr 4004 v. Chr. stattfand (534). Das vertritt jedoch aktuell kaum ein Kreationist, auch nicht ein „Kurzzeit-Kreationist“ (ein „Langzeit-Kreationist“ sowieso nicht) – eine solche pauschale Aussage über „die Kreationisten“ ist jedenfalls unzutreffend.

In Kap. 12 bespricht Barton die handschriftliche NT-Überlieferung. Die Einschätzung von Seiten der Textkritiker veranschaulicht er durch konkrete Beispiele (363ff). Die Rekonstruktion des Urtextes ist kompliziert, aber es ist übertrieben, wenn Barton behauptet, dass „frühere Versuche, den ‚Urtext‘ eines jeden Buches zu rekonstruieren, inzwischen weitgehend zurückgestellt wurden – zugunsten des Nachvollzugs der Geschichte verschiedener Handschriften-‚familien‘ …“ (358). Denn jede Ausgabe des griechischen NTs versucht, den Urtext zu rekonstruieren. Das gilt laut David Trobisch auch für „Die 28. Auflage des Nestle-Aland“ (so der Titel seiner Einführung von 2013, 5): Diese Ausgabe bemüht sich, „aus der Fülle der erhaltenen Lesarten den ältesten Text des griechischen Neuen Testamentes zu rekonstruieren“. Auch in diesem Bereich zeigt Barton fachliche Schwächen. „Der Codex Vaticanus stammt aus Ägypten“, sagt Barton, vermutlich zutreffend, aber kurz davor nennt er ihn eine „möglicherweise … römische Handschrift“ (360). Rätselhaft ist folgende Angabe Bartons: „Laut Eusebius’ Kirchengeschichte lebte Papias von 70 bis 163“ (368). Den genauen Fundort gibt Barton nicht an, aber bei Eusebius kann man wohl kaum Lebenszeitangaben nach der noch heute benutzten christlichen Zeitrechnung finden, die Dionysius Exiguus im Jahr 525 n. Chr. erstmals berechnet hat.

John Barton verfasste ein umfangreiches Werk, um die Geschichte der Bibel darzustellen. Für dieses umfassende Buchthema wendet er sich vielen Einzelthemen zu, die jeweils gründliche Sachkenntnis erfordern. Da ist vermutlich ein einzelner Gelehrter überfordert. Barton zieht zwar viel Fachliteratur heran, aber bei deren Verwertung unterlaufen ihm immer wieder Fehler. Durch seine eigene theologisch liberale Position, die er oft als die allgemein anerkannte hinstellt, wird er Leser mit konservativer Tendenz eher nicht ansprechen.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik