Jörg Jeremias: Habakuk
Jörg Jeremias: Habakuk, BKAT, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, geb., 279 S. € 75,–, ISBN 978-3-525-50360-7
In seinem Kommentar in der Reihe Biblischer Kommentar zum Alten Testament untersucht Jörg Jeremias, emeritierter Professor für Altes Testament an der Universität Marburg, die Botschaft und Hintergründe des Buches Habakuk.
Jeremias zeigt eine Entwicklung auf von einem klagenden Vorwurf des Propheten, dass Gott seinem Volk Hilfe verweigert, hin zu Gottes Verheißung, seinem Volk zu helfen. Mithilfe des autobiografischen Stils des Buches wird Habakuk als Vorbild im fragenden Beten und vertrauensvollen Warten auf Gottes Sieg über die „Frevler“ dargestellt. Wertvoll für die Entwicklung dieser Botschaft ist Jeremias Blick auf den formalen Aufbau des Buches, der auch die Wirkung impliziter Merkmale für die Deutung einzelner Textelemente in ihrer Stellung zueinander besonders berücksichtigt (so beispielsweise bei der Deutung der Gottesrede in Hab 1,5–11).
Der eigentlichen Untersuchung geht in einer Einleitung die Frage nach Entstehung und Integrität des Buches voraus. Hier gibt Jeremias zunächst einen kompakten wie erhellenden Forschungsüberblick. Er bedauert den Graben zwischen der deutschsprachigen redaktionsgeschichtlichen Forschung und der eher synchronen Herangehensweise im angelsächsischen Raum. Sein eigener Ansatz ist bemüht, die konzeptionelle Einheit des Buches zu berücksichtigen, ohne voreilig Spannungen zu glätten. Dies schließe aber eine literarische Schichtung und redaktionelle Überarbeitung des Materials nicht aus. Das Buch enthalte zwar ältere Teile, müsse aber im Wesentlichen in die exilisch-nachexilische Zeit verortet werden. Jeremias geht von zwei Hauptschichten im Buch Habakuk aus, deren Abgrenzung vor allem an inhaltlichen Aspekten festgemacht wird: Die ältere Schicht thematisiere innerjüdische Ungerechtigkeiten und verstehe unter den im Buch zentralen „Frevlern“ Einzelne aus der jüdischen Oberschicht. Die Grundschicht umfasse Habakuks Klage (1,2–13), Gottes Antwort (2,2–5) und die Weheworte (2,6–17*). Die jüngere Schicht beziehe sich hingegen auf die Unterdrückung durch fremde Weltmächte (besonders Babylon) und umfasse 1,14–17 und 2,5bβ–6aα. Jeremias sieht aber auch noch spätere Überarbeitungen angedeutet, auch wenn sich die hierfür angeführten Verse (z. B. 2,18–20 und 2,14 mit 3,3b, s. S. 21, 24, 33) nicht zwingend einem hellenistischen Einfluss verdanken. Hier ist kritisch anzumerken, dass die Thematik des Götzendienstes schon eher eine Rolle spielte und für eine nachträgliche Redaktion die Hoffnung auf den Untergang der Weltmacht doch recht allgemein gehalten ist.
Kap. 1 könne entweder insgesamt eine Klage des Propheten sein, auf die in Kap. 2 die Antwort Gottes folgt. Oder es handele sich um zwei Klagen (1,2–4 und 1,12–17) mit zwei Antworten Gottes (1,5–11 und 2,2–19). Jeremias entscheidet sich für ersteres, da Gottes Antwort in 1,5–11 fließend in die Klage des Propheten integriert sei. Nach Auffassung des Rezensenten ist im Endtext ein zweifacher Rednerwechsel durch den Subjektwechsel naheliegender. Der dialogische Stil unterstützt die theologische Entwicklung im Buch, die in der Theodizee ihren Ausgangspunkt nimmt und allmählich zum Vertrauen durchdringt und dem Leser einen Perspektivwechsel nachvollziehbar macht. Hab 3 wird von Jeremias nicht als ursprünglich unabhängiger Psalm verstanden, sondern sei in einer Spätphase „für das Buch Habakuk verfasst“ (23). Vor allem die Ergänzung von 3,17–19 habe die spätere Entwicklung zu einem eigenständigen Psalm ermöglicht. Das Buch umfasse einen Zeitraum vom Ende des 7. Jahrhunderts bis in die hellenistische Zeit.
Auch in der Einzelexegese nehmen Fragen der Integrität und Datierung eine bedeutende Rolle bei der Kommentierung der Verse ein. Getroffene Vorannahmen geben, auch wenn Jeremias um eine vom Inhalt bestimmte Auslegung bemüht ist, an der ein oder anderen Stelle den grundlegenden Ton für seine exegetische Analyse an.
Den Vorgaben der Reihe folgend, bietet der eigentliche Kommentarteil zunächst jeweils eine Auflistung wichtiger Literatur und Beobachtungen zu Textkritik, Form und Ort des jeweiligen Abschnitts, bevor im Rahmen der Einzelexegese grammatikalische und sprachliche Phänomene, aber auch Metrik und Versmaß untersucht werden. Parallelstellen werden häufig in die Analyse einbezogen, teils größere Abschnitte aus anderen Prophetenbüchern, teils auch zur Klärung eines Ausdrucks (s. die Parallelen beim dritten Weheruf, 168–172). Eine abschließende Synthese („Ziel“) jedes Abschnitts legt noch einmal seine Bedeutung im Buchganzen dar.
Aus der Fülle an wertvollen exegetischen Beobachtungen und theologischen Erträgen kann nur einiges angedeutet werden. In dem schwierigen Vers 1,11 sieht Jeremias den ältesten Textsinn im Sinne von Schnelligkeit in Qumran und Naḥal Ḥever bewahrt, während der MT durch dasוְאָשֵׁם „er lädt Schuld auf sich“ zu einer theologischen Umdeutung komme (85). Zu 2,4 erklärt Jeremias, dass durch die ungewöhnlichen Begriffe „das Besondere und Exzessive der genannten Verhaltensweisen hervorgehoben werden“ solle. Die אֱמוּנָה „Treue“ sei entsprechend dem Kontext als „Festhalten an Gottes Verheißung“ zu verstehen (135). Dankbar nimmt der Leser den Exkurs zur jüdischen und christlichen Wirkungsgeschichte des Verses wahr (140–143). In der ausführlichen Theophaniebeschreibung Hab 3 sieht Jeremias etliche Bezüge zu Hab 2, aber auch eine Eschatologisierung der gesamten prophetischen Botschaft. Dass das eigentliche Gebet (3,2 in Rahmung mit 3,16–19a) demgegenüber knapp ausfällt, bezeichnet Jeremias als „Missverhältnis“, das er mit der Übernahme der Vorlage durch die Überlieferer erklärt (199). Die stilistischen Unterschiede (3,3–7 Bericht-Stil in der 3. Person mit vorwiegend geschichtlichen Bezügen, 3,8–15 Anrede in der 2. Person mit mythischen Elementen, 3,16–19a Bericht-Stil in der 1. Person) würden sich durch unterschiedliche Vorlagen ergeben (211). Auf der anderen Seite seien beide Theophanie-Abschnitte vielfältig aufeinander bezogen (212).
Es ist dem Verfasser zu danken, ein ungewöhnliches Prophetenbuch kundig und konzentriert kommentiert und in den Fokus gerückt zu haben zu haben, ohne sich in Nebendiskussionen zu verlieren. Das Habakukbuch hebt sich durch seinen autobiografischen Stil, die ungewöhnliche Kombination von Formen und ganz eigene theologische Schwerpunkte von den übrigen Schriftpropheten ab. „Minor prophet“ bedeutet nicht unbedingt „minor profit“.
Dr. Walter Hilbrands ist Dozent für Altes Testament und Dekan an der Freien Theologischen Hochschule Gießen.