Simon Weyringer: An der Schwelle zum Land der Verheißung
Simon Weyringer: An der Schwelle zum Land der Verheißung. Rhetorik und Pragmatik in Dtn 9,1–10,11, BZAR 26, Wiesbaden: Harrassowitz, 2021, geb., XVI+256 S., € 68,–, ISBN 978-3-447-70332-3
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Dissertation, die von Dominik Markl am Pontificium Institutum Biblicum in Rom betreut wurde. Die synchron angelegte Arbeit fragt nach der Rhetorik und Pragmatik in Dtn 9,1–10,11. Die Unterscheidung von Rhetorik und Pragmatik zielt auf die textinterne (Rhetorik) und textexterne (Pragmatik) Kommunikationsebene. In dieser methodisch insgesamt sorgfältig durchgeführten Unterscheidung, die konsequent zwischen textinterner und textexterner Kommunikation differenziert, liegt der innovativste Aspekt der Studie, deren Resultate insgesamt doch wenig überraschend sind.
In der Einleitung, die kurz, aber informativ in die Textpragmatik einführt und die Methodologie der Studie darlegt, findet die Verortung der Studie in Bezug auf die bisherige Forschungsgeschichte statt. Weyringer benennt als offene Fragen: 1. Die Beziehung der verschiedenen Abschnitte innerhalb von Dtn 9,1–10,11 zueinander, insbesondere die Funktion der Ermutigung zur Landnahme in 9,1–3, aber auch der Warnung vor falscher Selbstzuschreibung in 9,4–6 für das Gesamte der Passage. 2. Die Frage der textexternen Kommunikation, wie sich die erzählte Ursprungsgeschichte zur tatsächlichen Geschichte Israels verhält und was sie vermitteln will. Dazu gehören auch spezifische Fragen, etwa die Bedeutung der Lade in der textexternen Kommunikationsebene.
Nach einer Heranführung an den Text, legt Weyringer diesen im Hauptteil entlang seiner Textstruktur aus: Dtn 9,1–3: Moses Ermutigung; Dtn 9,4–6: Warnung vor der falschen Selbstzuschreibung; Dtn 9,7–10,11: Geschichtsrückblick. Diese Auslegung wird in den beiden Schlusskapiteln zur textinternen und textexternen Kommunikation verwertet, wobei diese Vorgehensweise zu einigen Redundanzen führt, da vieles schon in der Auslegung selbst gesagt wird.
Mit Blick auf die textinterne Kommunikation arbeitet Weyringer überzeugend heraus, dass die mosaische Rhetorik nicht in einer Überredungskunst besteht, sondern dass die einzelnen Abschnitte der Rede zusammen eine „Dynamik der Überwindung“ entstehen lassen: Israels Fortexistenz als Volk Gottes ist der mosaischen Fürbitte und der göttlichen Überwindung des Zorns am Horeb zu verdanken, die Gabe des Landes also keine Belohnung für Bewährung, sondern Gnadengabe. Besonders aufschlussreich sind die intertextuellen Beobachtungen zwischen Ex 32–34 und Dtn 9–10, die deutlich machen, dass sich manche rhetorischen Spitzen in Dtn 9–10 gerade aus der Intertextualität ergeben. Hermeneutisch ist diese Einsicht wichtig, weil sie ein weiteres Mal den Nachweis erbringt, dass das Deuteronomium nicht isoliert vom Tetrateuch gelesen werden kann, ohne dass wesentliche Aspekte der Kommunikation des Deuteronomiums übersehen werden. Wichtig ist die Einsicht aber auch, weil Weyringer nachweist, dass Dtn 9,1–6 intertextuell genauso mit Ex 32–34 verbunden ist wie Dtn 9,7–10,11, was oft übersehen wurde, weil Dtn 9,1–6 unter dem Primat einer diachronen Exegese meist schon vom Folgenden abgetrennt ist, bevor es überhaupt zu intertextuellen Wahrnehmungen kommt.
Was die textexterne Kommunikation betrifft, so ist v. a. positiv zu würdigen, dass Weyringer explizit danach fragt, welche Eigenheiten des Textes auf textexterne Adressaten hin gelesen werden können. Dabei hebt er den Einschub der Erzählstimme in Dtn 10,6–9 hervor. Während das „Heute“ in der Moserede (9,1.3) textintern als Moab-Heute zu lesen ist (sich also auf die Erzählsituation vor der Landnahme bezieht), sei das „Heute“ der Erzählstimme in 10,8 auf die textexterne Adressatenschaft zu beziehen, die aus größerer zeitlicher Distanz auf das Horeb-Ereignis zurückblickt. Dadurch finde ein Brückenschlag von der erzählten Welt zur Welt, in der erzählt wird, statt.
Die Frage, wo diese textexterne Adressatenschaft geschichtlich zu verorten ist, wird dann methodisch wenig reflektiert, sondern sogleich beantwortet und zwar auf eine Weise, bei der unklar bleibt, was die Voraussetzung und was das zu Beweisende ist. Weyringer prüft weder verschiedene historische Möglichkeiten, noch die Möglichkeit einer bewussten Offenheit, die eine Engführung auf eine einzige textexterne Situation vermeiden will. Die in Dtn 9–10 erzählten Ereignisse sind gleichsam Chiffren für die Welt der Autoren: Die Horebkrise steht für die Zeit vor dem Exil, die Verschonung und Erneuerung der Tafeln für die Exilszeit, Moab für die persische Übergangszeit, die Landnahme für die Heimkehr aus dem Exil. Das Muster passt in groben Zügen, doch passt es nur auf eine Situation in Israels Geschichte? Und wie gut passt es in den Details? Warum gibt der Text der Erneuerung der Tafeln und der Lade ein so großes Gewicht, wo doch gerade die Lade im Exil verlorengeht und keine neuen Steintafeln angefertigt werden? Nach Weyringer sprach „das Motiv der Lade über die Symbolik der Bewahrung hinaus von einem Weg in das Land der Verheißung, der mit der Errichtung des Tempels seinen Abschluss finden sollte“ (220). Er bezieht kurzerhand die Lade auf den Tempel: „Nicht das Objekt steht im Augenmerk, sondern die Bewahrung des Bundes, die die Lade in Dtn 10 versinnbildlicht“ (222).
Dass das Deuteronomium eine textexterne Kommunikationsebene hat, wird in dieser Studie an Dtn 9–10 plausibel aufgezeigt. Dass diese textexterne Kommunikation aber (im ganzen Deuteronomium!) äußerst offen gehalten ist, so dass verschiedene Generationen in verschiedenen geschichtlichen Kontexten angesprochen sein können, verdiente eine ausführlichere Reflexion. Die schnelle Auflösung auf den Exilskontext hin steht dem eher im Weg. Immerhin öffnet Weyringer die textexterne Ebene in seinem allerletzten Abschnitt auch auf uns hin, wenn er schreibt, dass die Botschaft all jenen gelte, die sich angesprochen wissen: „Denn der Abschnitt erzählt davon, dass Gott unbeschadet aller Widerstände willens ist, seine Verheißungen an uns zu erfüllen. Seine Gnade geht uns voraus, aber nicht an uns vorbei.“ Man wird diese Studie mit Gewinn lesen, auch wenn man von der Fixierung der textexternen Adressatenschaft auf eine einzige, spezifische Situation in der Geschichte Israels hin nicht überzeugt ist.
Prof. Dr. Benjamin Kilchör, Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel