Winfried Thiel: Könige. 2. Teilband
Winfried Thiel: Könige. 2. Teilband. 1.Könige 17,1–22,54, BKAT IX/2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, geb., XII+792 S., € 225,–, ISBN 978-3-7887-3352-0
Im Jahre 1968 erschien der Kommentar von Martin Noth zu 1.Könige 1–16 in der BKAT-Reihe. Thiel legt den Folgeband zum ersten Königebuch vor, nachdem Rudolf Smend in den achtziger Jahren diese Aufgabe an ihn abgetreten hat: „Der Zeitpunkt für die Wiederaufnahme der Kommentierung erwies sich als wenig günstig. Die Theologischen Fakultäten waren in der Regel überlastet, und die Erfordernisse der Lehre drängten die Forschung an den Rand. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes waren nahezu zwei Jahrzehnte vergangen und hatten neue methodische Ansätze und zahlreiche Forschungsgesichtspunkte für die Königebücher und ihren weiteren Kontext bereitgestellt, die intensive Beachtung verdienten. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch durch andersartige Gewichtung der Interpretationsschritte ist der Kommentar, der nun nach fast einem halben Jahrhundert dem ersten Teil folgt, erheblich umfangreicher als dieser ausgefallen.“ (V). Die Veröffentlichung der Lieferungen erstreckte sich dabei über 20 Jahre (2000–2019) und dokumentiert auf diese Weise auch die Ausdauer, die Beharrlichkeit und die Sorgfalt des Kommentators. Der Umfang der Kommentierung fällt dabei sofort auf. Obwohl „nur“ sechs anstelle von sechzehn Kapitel kommentiert werden, beinhaltet Thiels Band mehr als doppelt so viele Seiten.
Wenn man sich beispielsweise 1Kön 18,1–46 anschaut bekommt man anhand der Seitenzahlen einen Eindruck, wie die Gewichtung der Abschnitte verteilt sind, die sich klassischerweise in der BKAT-Reihe finden: Literatur (81–82), Text (82–94), Form und Ort (94–113), Wort (113–211) und Ziel (211–214). Es liegt also eine sehr ausführliche Beschäftigung mit dem Text und textkritischen Fragen (Text), wie man es von der BKAT-Reihe gewohnt ist, und mit der „eigentlichen“ Auslegung (Wort) vor. Die Diskussion um Form und Ort wie auch der Abschnitt zu Ziel fällt vom Umfang im Vergleich zu Wort deutlich ab. Diese Gewichtung wird auch noch dadurch verstärkt, dass unter Wort immer wieder Literaturlisten zu finden sind, die einzelne Fragen vertiefen. Diese Listen sind in Summe wesentlich länger als die Literaturliste, die der Kommentierung vorangestellt ist. Thiels Ausführungen zu 1Kön 18,1–46 sind in der zweiten (2002) und dritten Lieferung (2007) erschienen, was den größten Zeitabstand im Erscheinen der Lieferungen darstellt. Dem mag es durchaus geschuldet sein, dass sich weitere Literaturlisten aufdrängten und die weiterführende Beschäftigung mit diesem herausfordernden und wichtigen Kapitel in der Eliaerzählung vertieften.
Schaut man sich die Literaturlisten an, sucht man lange und häufig vergeblich nach jüngeren Beiträgen. Insbesondere die Beschäftigung mit den prophetischen Erzählungen im Allgemeinen und mit der Eliaerzählung im Besonderen aus einer literarischen und / oder narrativen Perspektive nähert, kommt viel zu kurz. Das ist mehr als bedauerlich, wenn auch durchaus verständlich. Es ist bedauerlich, weil damit wichtige Impulse zum Verständnis biblischer Texte leicht zu kurz kommen, aber nicht nur das. Vielmehr erweist sich Thiel auf vielen, vielen Seiten als aufmerksamer Leser des biblischen Textes, der viele gute Beobachtungen mit wichtigen und wertvollen Überlegungen verknüpft. Bei Thiel stehen dabei für aufkommende Fragen vielfach literar- oder redaktionskritische Lösungen oder Antworten an erster Stelle oder Thiel spricht guten Beobachtungen selbst die Bedeutung ab, wie dies beispielsweise bei der Parallele von 1Kön 22,7 und 2Kön 3,7 der Fall ist (635–637). Die Rede von einer „geläufigen Formel“ ist ihm zu wenig, er hält weitreichende Übereinstimmungen fest, vermutet einen literarischen Eingriff und sagt dann: „Ansätze für die Literarkritik ergeben sich jedoch nicht. Die betreffenden Sätze sitzen fest in ihren Kontexten, und damit schließt sich eine sekundäre Übernahme aus.“ (636) Nach einer kurzen Zusammenstellung von textgeschichtlichen Lösungen, schlussfolgert Thiel: „Vielleicht darf man sich mit der Vermutung bescheiden, daß beide Texte aus demselben prophetischen Traditionskreis stammen und nebeneinander überliefert und wohl auch fixiert worden sind.“ (636–637). Es wäre sehr bereichernd und wertvoll gewesen, wenn dies intensiver und grundlegender mit narrativen Perspektiven ins Gespräch gebracht worden wären. Allerdings ist es auch nachvollziehbar, dass dies nur teilweise geschieht. Solche Gespräche hätten wohl nicht nur eine weitere Verlängerung des gesamten Projektes nach sich gezogen. Ganz sicher hätte es den Umfang der Ausführungen noch um weitere Seiten / Lieferungen erweitert. Die vorliegende gebundene Ausgabe hat mit fast 800 Seiten wohl schon seine Grenze erreicht.
So finden diese Gespräche an einzelnen Stellen bisweilen punktuell statt, schlagen aber nicht auf die Gesamtanlage des Kommentars durch, was vielleicht auch eine unangemessene Erwartung wäre. Thiel bietet den Leser einen guten und umfangreichen Kommentar in der besten BKAT-Tradition, wie man es nach seinen einschlägigen Veröffentlichungen der vorangegangenen Jahrzehnte wie Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 1–25 (1973), Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit (1980), Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 26–45. Mit einer Gesamtbeurteilung der deuteronomistischen Redaktion des Buches Jeremia (1981) oder auch dem mit Robert Hanhart und Werner H. Schmidt gemeinsam herausgegebenen Altes Testament (1989) erwarten konnte. Erfahrene Nutzer dieser Kommentarreihe wissen, was sie an dieser Reihe haben.
Eine Anmerkung sei noch angefügt. Die Rede von Interpretationsschritten legt scheinbar nahe, dass die Beschäftigung mit biblischen Texten gut nachvollziehbaren, konsekutiv abzuarbeitenden Schritten folgen kann oder sollte. Dies verstellt aber allzu leicht den Blick dafür, dass praktisch jeder „Interpretationsschritt“, man mag die Textkritik in großen Teilen davon auszunehmen, ein methodischer Zugang ist, der sich im Letzten mit dem Text als Ganzen beschäftigt und einen Blick auf den (ganzen) Text wirft, der mit anderen Blicken ins Gespräch zu bringen ist. Selbst schwierige textkritische Fragen erfordern immer wieder eine Schau auf einen Text oder Textabschnitt und ein auslegendes Abwägen, um eine angemessene Entscheidung zu treffen.
Thiel erweist sich als Kommentator, der den biblischen Text sehr aufmerksam liest, viele historische, religionsgeschichtliche und theologische Aspekte bewegt und mit seinen Ausführungen in eine intensive und ausführliche Beschäftigung mit den Texten verwickelt. In gewisser Weise taucht man auch in die Auslegungsgeschichte vergangener Jahrzehnte ein, buchstabiert an einzelnen Stellen die Grenzen und Möglichkeiten methodischer Zugänge durch und findet in diesem umfangreichen Kommentar eine Fülle von guten Beobachtungen, wertvolle Überlegungen, bedenkenswerte Vorschläge und einen anregenden Gesprächspartner im Ringen um das Verständnis der biblischen Texte.
Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton), Akademie für Kirche und Gesellschaft, Wien