Andreas-Christian Heidel: Das glaubende Gottesvolk
Andreas-Christian Heidel: Das glaubende Gottesvolk. Der Hebräerbrief in israeltheologischer Perspektive, WUNT II/540, Tübingen (Mohr Siebeck) 2020, 328 S., € 84,–, ISBN 978-3-16-159609-4
In seiner Dissertation (2020 bei Prof. Dr. Jörg Frey, Zürich) geht Heidel dem Verhältnis des Hebräerbriefes zum Judentum nach, das in der jüngeren Forschung sehr umstritten ist – insbesondere angesichts des Vorwurfs, der Hebr habe ein negatives Verhältnis zum Judentum und betreibe antijüdische Polemik, vor allem „wegen seiner kompromisslosen Christozentrik in der Heilsfrage“ (3).
Im Zentrum der Arbeit steht die „Frage: Kann hinsichtlich des theologischen Gedankengangs im Hebr eine eschatologische Heilsperspektive aus christlicher Sicht für jüdisch Gläubige formuliert werden, die nicht einseitig die im Hebr deutlich hervorgehobene Christologie aufgibt?“ (40). Im Hintergrund dieser Frage stehen Verlautbarungen der EKD zum Verhältnis Christentum-Judentum, die – so Heidel – „hermeneutische Einseitigkeiten“ aufweisen, „die dem neutestamentlichen Zeugnis, im Speziellen dem des Hebr, nicht gerecht werden“. Der Vf. möchte mit diesen Texten „in einen Diskurs treten“ (41).
Er beginnt mit der Darlegung der jüngeren Forschungsgeschichte des Hebr bzgl. seines Verhältnisses zum Judentum und bietet anschließend einen knappen Überblick über die diesbezüglichen Fragen – mit dem Ergebnis: Vieles kann nicht mehr geklärt werden, da die Dinge in einem „historischen Nebel“ liegen (56).
Im Rahmen des Hauptteils, eine exegetisch-theologische Untersuchung der Thematik, geht es zunächst um die alte und die neue Heilsordnung(anhand Hebr 4–10, bes. 8,1–10,18) mit dem Ergebnis der klaren Überlegenheit der neuen Heilsordnung in Jesus über die alte, die nicht zum Ziel (des ewigen Heils) führt. Daraus ergibt sich die Frage – ihr gilt das eigentliche Interesse der Arbeit (99) –, was das für die „leiblichen Nachkommen Abrahams“ bedeutet. Antwort: Auch sie werden am Heil teilhaben, im/aus Glauben (Hebr 10,38; 99f).
Das wird im nächsten Abschnitt Der Glaube des einen Gottesvolkes vertieft – mit dem Ergebnis: Der Glaube ist „das eschatologische momentum, an dem sich Leben und Tod vor Gott für den Menschen entscheidet“. Als solcher ist er an Sündenvergebung (Reinigung) durch Jesus Christus gebunden. Diese Jesusbezogenheit des Glaubens (144f) gilt auch für Juden, wie der Abschnitt Der Heilsplan Gottes für das glaubende Gottesvolk ausführt. Demnach pilgert das im Glauben geeinte Gottesvolk zu seiner zukünftigen himmlischen Ruhestadt. Dabei hat sich durch das Reden Gottes im Sohn ein Zwischenraum bzw. eine Zwischenzeit aufgetan: das „Heute“ als die Wirklichkeit des Gottesvolkes im Zugehen auf die Vollendung. Aufgrund dieser Geschichtsschau (anhand 11,39f) sind auch die atl. Glaubenszeugen noch auf dieses Ziel hin unterwegs und erhalten Anteil an der in Jesus erfolgenden Vollendung des ganzen Gottesvolks (144f).
Der sich daraus ergebenden Frage, wie die Vereinigung der früheren und gegenwärtigen Glaubenden zu dem einen Gottesvolk und seinem endgültigen Heil zu denken ist, widmet sich der Abschnitt Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolks. Dazu diskutiert Heidel zwei eschatologische Modelle, die sich in der Forschung etabliert haben und sich vor allem in der Frage unterscheiden, ob die bis zum Zeitpunkt des Endgerichts bereits verstorbenen Glaubensgenerationen schon Anteil an der himmlischen Wirklichkeit haben oder nicht (240). Heidel plädiert für eine Kombination beider Modelle (um der mehrdimensionalen eschatologischen Darstellung im Hebr möglichst gerecht zu werden). Anhand des ausschlaggebenden Texts (Hebr 12,22–29) kommt er zu dem Ergebnis: Alle (Lebende und Verstorbene) füllen nach ihrer Rettung im Endgericht die himmlische Stadt (= die in Jesus aufgerichtete basileia Gottes). Die Entstehung der ntl. Gemeinde durch das Reden Gottes im Sohn ist ein unumgänglicher Schritt zur Erreichung dieser Vollendung. Sie ist ein Schritt dorthin, aber nicht das Ziel. Jenes umfasst die „Vollzahl aller Generationen des glaubenden Gottesvolkes“ (248f).
Den Abschluss bilden eine Ertragssicherung und ein Ausblick. Hier geht es zunächst umIsraeltheologie im Licht des Hebr mit einem kurzen Aufriss verschiedener diesbezüglicher Themen (u. a. der eine Heilsweg des einen glaubenden Gottesvolkes, Kontinuität und Innovation im Geschichtshandeln Gottes, Einbeziehung von Röm 9–11 in die Überlegungen). Es folgt ein Versuch der Verständigung hinsichtlich der diesbezüglichen Kritik am Hebr, in dem Heidel eine exegetisch gerechtfertigte positive eschatologische Heilsperspektive für Israel von einem christlichen Standpunkt im Licht des Hebr aufzeigt. Da es hier um eine zentrale Fragestellung der Arbeit geht, hätte dieser Abschnitt (nur 3 Seiten) etwas ausführlicher sein können. Schließlich ergehen Anregungen für eine christliche Israeltheologie und das jüdisch-christliche Gespräch mit demFazit: „Der Hebr führt den christlichen Dialogpartner von beiden Seiten an eine Grenze: Er drängt ihn dazu, in seiner Anstrengung um eine eschatologische Heilsperspektive Israels nicht abzulassen und zugleich die aus seiner Glaubensgewissheit heraus erkannte Notwendigkeit und Unersetzlichkeit des Heilswerkes Jesu an keiner Stelle aufzugeben.“ (276). Heidels Untersuchung greift eine aktuelle und brisante Thematik auf und setzt sich mit ihr in biblisch-theologischer Argumentation auseinander. Aufgrund der Komplexität der diesbezüglichen Inhalte des Hebr ist der Duktus der Ausführungen ebenso höchst komplex und anspruchsvoll. Die Dinge sind aber exegetisch sehr sauber und nachvollziehbar erarbeitet und zeigen eine überzeugende Lösung der Problematik auf.
Dr. Roland Gebauer war Rektor und Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen