Michael R. Jost: Engelgemeinschaft im irdischen Gottesdienst
Michael R. Jost: Engelgemeinschaft im irdischen Gottesdienst. Studien zu Texten aus Qumran und dem Neuen Testament, WUNT II/505, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, kt., XVI+454 S., € 104,–, ISBN 978-3-16-156740-7
Das Buch ist die Druckfassung der mit Summa cum laude bewerteten Dissertation des Vf.s, die 2018 an der Universität Bern eingereicht und erfolgreich verteidigt wurde. Betreut wurde sie von Jörg Frey (Zürich) und Benjamin Schliesser (Bern). Schon vor der Dissertation gab Jost zusammen mit Jörg Frey einen Sammelband heraus, der die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Gemeinschaft mit den Engeln im irdischen Gottesdienst in frühjüdischen und neutestamentlichen Schriften“ darstellt (Gottesdienst und Engel im antiken Judentum und frühen Christentum, WUNT II/446, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017).
Das Thema überrascht zunächst und das von Jost angeführte Urteil des Tübinger Neutestamentlers Otfried Hofius, wonach eine „gründliche[] monographische[] Erörterung“ zum Thema der Gemeinschaft mit den Engeln im Gottesdienst der Kirche ein Desiderat sei, werden nicht viele teilen (O. Hofius, „Gemeinschaft mit den Engeln im Gottesdienst der Kirche“, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 301–325, hier 308 Anm. 35). Jost selbst nennt das Thema im ersten Satz „eher ungewöhnlich“ (1). Das gilt allerdings nur für die protestantische Tradition, denn insbesondere im orthodoxen Gottesdienst ist die Engelsgemeinschaft fester Bestandteil der Liturgie, worauf nicht zuletzt die Ausmalung des Kirchenraumes hinweist, in der die Engel immer als Teil der feiernden Gemeinde mitabgebildet sind. Dass der Vortrag von Hofius, der am Anfang dieser Dissertation steht, anlässlich eines Symposiums zum Millenium der Russischen Orthodoxen Kirche 1988 gehalten wurde, ist darum kein Zufall.
Die Arbeit hat zwei große Teile, die von hinführenden bzw. wirkungsgeschichtlichen kürzeren Kapiteln gerahmt sind. Der erste Hauptteil beschäftigt sich mit der „Gottesdienstliche[n] Engelgemeinschaft in Texten vom Toten Meer“ (31–203), was insofern berechtigt ist, weil insbesondere die „Lieder zum Sabbatopfer“ genannten Handschriften 4Q400–407 dieses Thema mit aller Deutlichkeit in den Fokus rückten. In ihnen ist die gottesdienstliche Gemeinschaft wohl am deutlichsten geschildert, so dass sie oft den interpretatorischen Rahmen für andere, zumeist sehr viel kürzere Texte bzw. Textzeilen bieten. In diesem Teil werden alle entsprechenden Belege aus den Schriften von Qumran minutiös kontextualisiert und ausgelegt. Dabei werden auch die Einleitungsfragen zu diesen Texten kenntnisreich behandelt, so dass dieser Teil auch über die spezielle Frage nach den Engeln hinaus hilfreich ist. Als Ergebnis wird festgehalten, dass für die Qumrangemeinde „die Engelgemeinschaft … zur irdischen Wirklichkeitserfahrung“ gehört. Sie wird in der gottesdienstlichen Liturgie „nicht erwirkt, sondern vergegenwärtigt“ (197). Ziel dieser Gemeinschaft zwischen Irdischen und Himmlischen ist der „kosmische Lobpreis Gottes“ (198), der schon jetzt ertönt, auch wenn die menschliche Seite noch unter vielfachen Bedrängnissen leidet. Für die Zukunft wird deren Überwindung erwartet, so dass eine unmittelbare Gemeinschaft mit den Engeln möglich ist, die aber nie Selbstzweck ist, sondern auf Gott ausgerichtet bleibt.
Der zweite Hauptteil (= Teil III) behandelt die „Gottesdienstliche Engelgemeinschaft in neutestamentlichen Texten“ (205–338). Die Stellen, die hier ausführlich behandelt werden, sind 1Kor 11,10 (die Frauen sollen im Gottesdienst eine „Macht auf dem Haupt haben wegen der Engel“), Hebr 12,22–23 („ihr seid hinzugetreten … zu Myriaden von Engeln, einer Festversammlung, und zur Gemeinde der Erstgeborenen, die in den Himmeln aufgeschrieben sind“) und zahlreiche Stellen aus der Offenbarung, die – entgegen der Erwartung, die man als Leser vermittelst des Titels der Arbeit mitbringt – allesamt so gedeutet werden, dass es darin gerade nicht um eine „gegenwärtige Gemeinschaft mit den Engeln“ geht (314 zu Offb 7,9–17). Anhangsweise werden auch Epheser- und Kolosserbrief behandelt (332–337). Das Ergebnis des ntl. Teils ist eindeutig, nämlich „dass von einer Gemeinschaft mit den Engeln im irdischen Gottesdienst nicht die Rede sein kann“ (331, [Hervorhebung RD] – man ist geneigt zu denken: schade eigentlich). Zwar wird durchgängig die Bezogenheit von irdischem Gottesdienst und dem engelischen Lobpreis in der Herrlichkeit Gottes betont, aber zugleich die Christuszentriertheit und das heilsgeschichtliche Nacheinander dieses Geschehens hervorgehoben: das Ende ist da erreicht, wo die irdische Gemeinde als erlöste Gemeinde ihren Erlöser verherrlicht: „Der Sieg ist vollbracht und die Gemeinde erlöst, weshalb im weiteren Verlauf kein Lobpreis der Engel mehr erklingt…“ (323), und weiter: „Die erlöste Gemeinde nimmt darum nicht am himmlischen Lobpreis teil, sondern sie führt ihn an“ (331). Damit wird der Charakter der Engel als „dienstbare Wesen“ noch einmal betont, zugleich werden die Erlösung der Gemeinde und das Hochzeitsmahl des Lammes als Zielpunkt des Heilsgeschehens, dem auch die Engel und ihr Dienst eingeordnet sind, eindrucksvoll hervorgehoben. Das ist einfach schön! In der Analyse der hymnischen Passagen finden sich zudem Sätze, die seelsorgerliches Potential (nicht zuletzt angesichts gegenwärtiger Krisenerfahrungen) besitzen und etwas von der theologisch-pastoralen Kompetenz des Vfs. vermitteln: „Die apokalyptische Gerichtszeit, von der die Johannesoffenbarung spricht, ist durchdrungen von der Heilsbotschaft und dem immerwährenden Lobpreis Gottes, sodass die irdische Gemeinde in der Bedrängnis der Endzeit zugleich die Sicherheit des Sieges durch den himmlischen Lobpreis zugesprochen erhält“ (299). Das Fazit des ntl. Teils ist also, dass es im NT keinen „Beleg für die Vorstellung einer aktualen Gemeinschaft im Sinne einer gegenseitigen Verbundenheit von Engeln und Menschen in räumlicher Nähe während des Gottesdienstes“ gibt (337). Engel sind zwar präsent (das wird insbesondere aus 1Kor 11,10 festgehalten), aber es gibt keine eigentliche Gemeinschaft mit ihnen.
Man könnte einwenden, dass die alles in allem doch sehr enigmatische Stelle 1Kor 11,10 kaum das Gewicht tragen kann, das ihr hier zugemutet wird, doch Jost zeigt sehr umsichtig, dass für Paulus die Engel selbstverständlicher Teil seiner Wirklichkeitserfahrung sind, weshalb er deren Wirken, Bedeutung und Gegenwart ohne weitere Klärungen als gemeinsames Glaubensgut mit seinen Adressaten voraussetzen kann: „Himmel und Erde sowie Engel und Menschen gehören zum einen Kosmos und zur einen Schöpfung Gottes. Sie können nicht getrennt werden, sondern bilden eine gemeinsame Wirklichkeit“ (238). Seine Gesamtinterpretation der vieldiskutierten Stelle 1Kor 11,2–16 ist äußerst spannend, auch wenn er aus verständlichen Gründen darauf verzichtet, daraus weitergehende Folgerungen abzuleiten. Sein vorsichtiges Resümee lautet:
„Entsprechend kann die Aussage in 1Kor 11,10 am besten so gedeutet werden, dass die Engel im Himmel für die Gebete der Frauen und Männer im irdischen Gottesdienst zeugen. Die Frau aber muss gemäß Paulus, wenn sie sich in Gebet und Prophetie an die himmlische Welt wendet, zur Ermächtigung eine Kopfbedeckung tragen, womit sie trotz ihrer eigenständigen Hinwendung zu Gott ihre Zuordnung zum Ehemann sozial sichtbar macht. Auf diese Weise kombiniert Paulus die schöpfungstheologisch begründete Unterscheidung von Mann und Frau mit der selbständigen Beteiligung der (Ehe-)Frauen am Gottesdienst.“ (241)
Der Gewinn der Doppelstruktur Qumran/NT zeigt sich u. a. in der Bearbeitung des Hebräerbriefes, dessen religionsgeschichtlicher Kontext (bei Jost „Traditionsmilieu“, 244–246) ja durchaus umstritten ist und von frühjüdischen Kontexten (Philo, Qumran, Apokalyptik, Merkava-Mystik) bis zur „vorchristlichen Gnostik“, Mittelplatonismus und den Mysterienreligionen gesucht wird. Hier zeigt Jost einerseits im Hinblick auf die Gemeinschaft mit Engeln eine große Nähe zu den Vorstellungen der betreffenden Qumrantexte und verortet damit den unbekannten Autor des Hebräerbriefes sehr deutlich im jüdischen Kontext, zugleich betont er aber die Unterschiede, die sich aus der „völlig neuen theologischen bzw. christologischen Denkweise“ (281) ergeben. Das ist mutig in Zeiten, in denen manche Jesus und Paulus so völlig in ihren jüdischen Kontext absorbieren („Third Quest“ bzw. „Radical New Perspective“), dass das Neue der Christusoffenbarung fast nicht mehr sagbar ist. Auch in der Schlusszusammenfassung wird das Unterschiedliche fast stärker betont als das Gemeinsame (z. B. 371):
„Es ist nicht möglich für die Interpretation der neutestamentlichen Rede von den Engeln im gottesdienstlichen Kontext auf das entsprechende Motiv in den Texten vom Toten Meer zurückzugreifen, die mit ihrer einzigartigen Hochschätzung der liturgischen Gemeinschaft mit den Engeln in eine deutlich andere Richtung weisen.“
Weniger überzeugend halte ich die beständig betonte enge Verbindung von Engeln und apokalyptischem Weltbild des Paulus (z. B. 207: „Die Engel sind darum im Neuen Testament nicht unabhängig vom apokalyptischen Weltbild zu verstehen“). Hier läuft der Vf. m. E. in die Gefahr, die Existenz bzw. das Reden von Engeln ausschließlich mit dem „prägende[n] Einfluss des apokalyptischen Weltbildes“ zu begründen. Hier müsste man doch deutlicher sagen: die Engel und ihr Wirken sind im Neuen Testament darum dargestellt, weil ihr Wirken als ein solches erfahren worden ist, d. h. die Angelophanien, die das Neue Testament breit und ausführlich bezeugt, und zwar sowohl als historische wie als visionäre Erfahrung, sind Teil des von Gott geschaffenen Kosmos und darum von Anfang an Teil des biblischen Weltbildes. Darum sind die Engel bei Paulus nicht dem „Einfluss apokalyptischer Vorstellungen“ auf sein Denken geschuldet (211), sondern, wenn überhaupt von solchen Einflüssen die Rede sein muss, dann sind sie seinem biblischen Weltbild zu verdanken. Dass er darüber hinaus von konkreten Engelserfahrungen sprechen kann, verdankt sich dem offenbarenden Handeln Gottes, der es dem Apostel erlaubte, Einblick in diese zumeist unsichtbare Gegenwärtigkeit der himmlischen Realitäten im Gefüge der Welt zu bekommen. Besonders die Darstellung des Hebräerbriefes leidet unter diesem fast schon penetranten Verweis auf das „frühjüdisch-apokalyptische[] Weltbild“ (244, vgl. 250: „…weist gerade die Rede von den Engeln auf den Einfluss frühjüdisch-apokalyptischer Traditionen … hin“) mit dem die Aussagen über den Thron Gottes, die Engel, das Gericht, den Wechsel der Zeiten und die Auferstehung erklärt wird (245, s. a. 246, 248, 250 etc.).
Gerahmt sind die beiden Hauptteile von zwei deutlich kürzeren. Der erste behandelt „Alttestamentliche und frühjüdische Aspekte“ (15–30), in dem die einschlägigen Stellen nur ganz knapp vorgestellt werden (Jes 6; Ps 29; 103; 148; Jub 2,17–22; Jud 12,12.15; Dan 12,1–3; 1Hen 39,4–5). „Rabbinische und patristische Perspektiven“ bilden den IV. Teil (339–365), in dem zwei entsprechende Kapitel sehr knapp die Untersuchung durch Hinweise abrunden, wie in nachbiblischer Zeit jüdischer- bzw. christlicherseits diese Vorstellungen weiterbearbeitet wurden. Besonders bei Origenes ist der Gedanke ausgeprägt, dass im normalen Gottesdienst eine „zweifache Kirche“ anwesend ist, „eine von Menschen, eine andere von Engeln“ (356). Die weitere Entwicklung rückt dann den amtierenden Priester in die Rolle des Engels, indem sie „die Vermittlung mit der überirdischen Welt … von den himmlischen Engeln auf die irdischen Amtspersonen“ verlagert (365). Solche Aussagen zeigen ganz nebenbei, dass für das ökumenische Gespräch und hier besonders die Debatte über das Amtsverständnis vertiefte Kenntnisse in der Angelologie durchaus nützlich sind.
Fazit: Die zunächst ungewöhnliche Themenstellung erweist sich als erstaunlich produktiv. Durch den Fokus auf „gottesdienstliche Gemeinschaft“ wird das Thema Engel jenseits von Kitsch, Frömmelei und esoterischen Anmutungen plötzlich relevant, und zwar so, dass es sich lohnt, über das eigene Verhalten im Gottesdienst der eigenen Gemeinde nachzudenken. Die Selbstverständlichkeit, mit der die drei ntl. Schriften Engel und ihre Dienste vor Gott und bei den Menschen voraussetzen, ohne dieselben an irgendeiner Stelle in den Mittelpunkt zu rücken, wird in dieser Arbeit zum Leuchten gebracht, ohne dass man durch sie nun dazu verführt würde, einer wie auch immer gearteten Angelolatrie zu verfallen. Es wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass „die Vorstellung einer gottesdienstlichen Engelsgemeinschaft in den neutestamentlichen Schriften eine deutlich geringere Rolle als in den Texten vom Toten Meer“ spielt (369). Eine solche relativierende Einordnung des eigenen Forschungsthemas ist selten und spricht für den Autor, der nicht versucht, sein Thema (und damit sich selbst) zu „hypen“ und damit mediale Aufmerksamkeit zu erlangen. Erfreulich ist ferner, dass der Vf. am Ende die Ergebnisse seiner Arbeit ausdrücklich mit gegenwärtigen Gottesdienstvorstellungen in Beziehung setzt, indem er auf die Engelsgemeinschaft „in vielen älteren und neueren Lobpreisliedern“ (372) verweist und dazu anregt, die „eschatologische Vollendungshoffnung“, zu der die dann sichtbare Gemeinschaft mit den Engeln gehört, stärker als bisher zu akzentuieren (und damit auch eine Brücke zur orthodoxen Kirchentradition zu schlagen).
Die Arbeit ist in einer klaren Wissenschaftsprosa geschrieben, die sehr angenehm zu lesen ist und neben allem Spezialwissen zugleich eine hilfreiche Einführung in die Engellehre des Neuen Testaments darstellt. Sie ist methodisch und handwerklich grundsolide und geht eng an den behandelten Texten entlang, ohne sich in Theoriediskursen zu verzetteln. Sie wurde 2018 mit dem Preis der „Fondation pour l’enseignement du judaïsme à l’Université de Lausanne“ ausgezeichnet und kann insgesamt nur als sehr gelungen und anregend bezeichnet werden.
Prof. Dr. Roland Deines, Internationale Hochschule Liebenzell