Neues Testament

Johanna Körner: Sexualität und Geschlecht bei Paulus

Johanna Körner: Sexualität und Geschlecht bei Paulus. Die Spannung zwischen „Inklusi­vität“ und „Exklusivität“ des paulinischen Ethos am Beispiel der Sexual- und Ge­schlechterrollenethik, WUNT 2/512, Tübingen: Mohr Siebeck, 2020, kt., XIII+332 S., € 84,–, ISBN 978-3-16-15713-1


Körner geht in dieser Monografie, einer geringfügig überarbeiteten Version ihrer Heidelberger Dissertation von 2018, der Frage nach, „inwieweit Paulus in materialethischer Hinsicht einfach die Gewohnheiten, Überzeugungen und Traditionen aus der jüdischen und paganen hellenistischen Umwelt übernimmt“ (1). Sie orientiert sich dabei, wie sie im einleitenden Kap. I erklärt, am Ansatz Michael Wolters, der in seinen Beiträgen zur paulinischen Ethik diese vordergründig in Hinblick einerseits auf ihre Affinität (Inklusivität) mit und andererseits auf ihre Divergenz (Exklusivität) von seiner Umwelt ergründet. In Kap. II geht es Körner um die „soziale und kulturelle Realität in der hellenistischen Umwelt der paulinischen Gemeinden“ in Bezug auf ihr Thema. Sie beschreibt in kurzen Unterpunkten gängige Haltungen zu Ehe und Ehescheidung, Inzest, Prostitution, Homosexualität, Frauen im öffentlichen Leben sowie Geschlechterrollensymbolik. Diese vergleicht sie in Kap. III exemplarisch mit jeweils zwei frühjüdischen Texten (Testamente der Zwölf Patriarchen und Pseudo-Phokylides) und zwei paganen Autoren (Musonius Rufus und Plutarch). Kap. IV, das bei weitem längste Kapitel, ist der Untersuchung den wichtigsten paulinischen Texten zum Thema gewidmet: Gal 3,23–29 (Geschlechterunterschiede), 1Thess 4,1–8 (Vermeidung von Unzucht), 1Kor 5,1–13 (Inzest), 1Kor 6,12–20 (Prostitution), 1Kor 7,1–9 (Ehe), 1Kor 7,10–16 (Ehescheidung), Röm 1,18–27/1Kor 6,9–11 (Homosexualität), 1Kor 11,2–16 (Geschlechterrollensymbole) und Röm 16,1–16 (Frauen als Mitarbeiter des Paulus). In Kap. V zieht Körner aus ihrer Untersuchung dreiundzwanzig Schlüsse, die nicht den Anspruch erheben, die paulinische Ethik als „geschlossenes System“ darzustellen.

Als kompakte Darstellung der paulinischen Sexual- und Geschlechterrollenethik ist Körners Arbeit hilfreich. Sie vermeidet es ihrem Anliegen gemäß, ein Bild des Apostels zu malen, das einer modernen Ideologie Tribut zollt, sei es als „Frauenhasser und Antifeministen“ oder umgekehrt als „Wegbereiter der modernen Emanzipation“ (17–18). Sie ist überall um eine kontextbezogene Auslegung der paulinischen Texte bemüht, die die Sperrigkeit der Texte für moderne (westliche) Leser nicht abschwächen will. Sie gesteht ein, dass „die sexualethische Position des Paulus für ihn konstitutiv mit zur Etablierung einer christlichen Identität hinzugehört“ (122). Sie unterstreicht des Öfteren, welche grundlegende Rolle die Vorstellung einer Schöpfungsordnung bei der Herausbildung der paulinischen Sexualethik einnimmt (z. B. 152, 243). Sie konstatiert mehrmals, dass für Paulus „der einzige legitime Ort“ für die Ausübung sexueller Beziehungen die monogame Ehe ist (z. B. 152, 172). Homosexuelle Handlungen verletzen für ihn „die schöpfungsmäßig angelegten Geschlechterunterschiede“ (237). Auch eine Bibelwissenschaftlerin braucht in der gegenwärtigen (kirchen)politischen Lage Mut, um die Positionen des Paulus so unverblümt darzustellen, selbst dann, wenn sie sie nicht teilt (s. u.).

Zu bemängeln ist an der Arbeit die teilweise fehlende exegetische Tiefe. Die Monografie ist schlicht zu kurz, als dass es ihr möglich wäre, alle behandelten Texte mit der erforderlichen Sorgfalt auszulegen. So kann z. B. eine Arbeit, die Gal 3,23–28 zu einem „Basistext“ für die Erschließung der paulinischen Sexualethik erhebt (106), die Frage nach der Datierung des Galaterbriefs nicht ganz ausblenden bzw. müsste die befürwortete Position (Spätdatierung) gegenüber neueren Datierungshypothesen rechtfertigen. Weiterhin ist Körner überzeugt, dass die „akute Naherwartung“ des Apostels eine wesentliche Rolle für die Gestaltung seiner Ethik spielte, bemüht sich aber nirgends zu beweisen, dass seine Naherwartung „akut“ war. Körner geht in ihrer Behandlung von 1Kor 6,12–20 auf V. 16 gar nicht ein; es wundert dann nicht, wenn sie dem christologischen Argument des Apostels keine zentrale Bedeutung beimisst (163). Bei der Besprechung von „Männer[n] und Frauen im Gottesdienst“ wird 1Kor 14,33b–36 selbstverständlich als nachpaulinische Glosse disqualifiziert; auf die intensiv geführte textkritische Diskussion geht sie dabei gar nicht ein. Überhaupt macht sich Körner zu selten die Mühe, sich mit gegnerischen Positionen auseinanderzusetzen; man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sie diese, wenn sie nicht zum Mainstream der deutschen Forschung gehören, oft nicht kennt.

Auch in hermeneutischer Hinsicht lässt Körners Arbeit zu wünschen übrig. Sie ist zwar um eine kontextgemäße Auslegung der paulinischen Texte bemüht, aber dort, wo sie sich erlaubt, sich Gedanken über den heutigen Umgang mit ihnen zu machen, ist der Ertrag enttäuschend. Wie oben schon erwähnt, konstatiert Körner, dass für Paulus die monogame Ehe der einzig legitime Ort ist für den Geschlechtsverkehr ist. Dass diese Ansicht für moderne Leser (im Westen) herausfordernd ist, versteht sich von selbst. Körner sieht die Lösung darin, dem Apostel eine Freud`sche Brille zu verpassen: Dieser habe „mit großem Realitätssinn und Pragmatismus konstatiert, dass es in jedem Fall kontraproduktiv ist, zwanghaft und verkrampft die eigene Biologie zu unterdrücken zu versuchen“ und würde vermutlich in der heutigen Zeit einsehen, dass eine von Liebe und Respekt gekennzeichnete sexuelle Beziehung auch ohne Trauschein seinen Forderungen genügen müsste (190).

Beunruhigender ist aber Körners hermeneutischen Umgang mit den paulinischen Aussagen zur Homosexualität in Röm 1,26–27. Körner ist anzuerkennen, dass sie die Aussage des Textes an sich nicht relativieren will. (Das gilt auch, wenn sie die m. E. unhaltbare Position vertritt, das Problem sei für Paulus „homosexuelles Handeln eigentlich heterosexueller Männer“ [234, Hervorhebung Körner]. Dass dies im krassen Widerspruch zu ihrem nächsten Satz steht – die moderne Erkenntnis, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen „integraler Bestandteil seines Wesens, seiner Identität ist“, sei Paulus fremd –, fällt ihr gar nicht auf [234].) Sie spielt aber ganz bewusst paulinische Texte gegeneinander aus. So muss ihres Erachtens „Gal 3 sogar gegen Röm 1 ins Spiel gebracht“ werden (239). Wieso das, wenn sie selbst argumentiert, dass der Galatertext um einiges situationsbezogener ist als der Römertext (vgl. 98–99 mit 215) und dass es Paulus in Gal 3,28 nicht um die Aufhebung der schöpfungsbedingten Geschlechterunterschiede geht (105)? Es scheint einzig eine Frage ihrer kulturell bedingten Präferenz zu sein. Was könnte sie aber jemandem erwidern, dem die Aussage in Röm 1 aufgrund seines kulturellen Hintergrundes besser gefällt? Wenn man bereit ist, altbewährte Prinzipien der Schriftauslegung (sola scriptura; analogia fidei) zugunsten von „mit Paulus gegen Paulus“ (239) einzutauschen, kann man nicht meckern, wenn andere den exklusiven statt den inklusiven Paulus vorziehen. „Paulus mit Paulus“ zu lesen scheint mir trotz der Spannungen, die er mit sich bringt, immer noch der bessere Weg zu sein.


Dr. Joel White, Professor für Neues Testament, Freie Theologische Hochschule Gießen