Rüdiger Kröger / Peter Vogt (Hg.): Die Welt zu Gast in Herrnhut
Rüdiger Kröger / Peter Vogt (Hg.): Die Welt zu Gast in Herrnhut. Berichte von Besuchen aus drei Jahrhunderten, zusammengestellt und hg. von Rüdiger Kröger und Peter Vogt in Zusammenarbeit mit dem Unitätsarchiv Herrnhut, Festgabe zum Herrnhuter Stadtjubiläum, Beiheft Unitas Fratrum 37, Herrnhut: Herrnhuter Verlag, 2022, 343 S., geb., € 25,–, ISBN 978-3-931956-65-3
Das vorliegende, auch äußerlich ansprechend gestaltete Buch reiht sich ein in mehrere Publikationen zum 300-jährigen Jubiläum der Stadt Herrnhut im Jahr 2022. Der Ort gehört zur Oberlausitz und ist mitten im Dreiländereck zwischen Deutschland, Polen und Tschechien gelegen. Die auf den Gütern Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs erbaute Siedlung von Glaubensflüchtlingen vor allem aus Böhmen wurde bald zum Zentrum einer internationalen Evangelisations- und Missionsbewegung, aus der eine weltweite Freikirche erwuchs. In Deutschland blieb die Herrnhuter Brüdergemeine immer klein und ist heute mit der EKD vertraglich verbunden.
Das zu besprechende Buch wirft einen Blick primär von außen auf Herrnhut. Aus drei Jahrhunderten kommt eine Vielzahl von Besucherinnen und Besuchern mit den Eindrücken zu Wort, die sie in Herrnhut empfangen haben. Dadurch entsteht eine Orts- und Kirchengeschichte Herrnhuts nicht nur, aber vor allem mit den Augen anderer gesehen. Allein, dass es, beginnend mit den Anfangszeiten, so viele Berichte gibt, zeigt, dass Herrnhut sehr bald zu einer Attraktion wurde. Im Verlauf der Zeit entwickelte es sich zu einem regelrechten „evangelischen Gnadenort“ (Manfred Seitz), der zum Ziel vieler überzeugter Christen aus dem In- und Ausland, aber auch zur Zielscheibe des Spotts mancher Zeitgenossen wurde. Dadurch, dass die im Buch zu Wort kommenden Besucherinnen und Besucher berühmte und auch weniger bekannte Persönlichkeiten waren, wird erkennbar, dass die Herrnhuter Brüdergemeine als geistliche Bewegung alle Volksschichten erreichte und zur Positionierung herausforderte. Es ist den Herausgebern zu danken, dass sie eine repräsentative Auswahl von Berichten vorgelegt haben, die Einblick in die ganze Vielfalt der Besucherinnen und Besucher mitsamt ihren unterschiedlichen Perspektiven gewährt. Neben Theologen, Monarchen und Staatsoberhäuptern stehen Künstler und Handwerker. Der schwäbische Pietist und Mystiker Friedrich Christoph Oetinger hat bereits Anfang der 1730er Jahre längere Zeit in Herrnhut, unter dem Einfluss Zinzendorfs stehend, verbracht. John Wesley unternahm 1738 eine regelrechte Wallfahrt nach Herrnhut, nachdem er in der Herrnhuter Brüdergemeine in London seine Bekehrung erlebt hatte. Zu den bekannten Theologen, die Herrnhut im Verlauf der letzten 300 Jahre besucht haben, gehören Johann Hinrich Wichern, der liberale Prediger Friedrich Rittelmeyer, der die Christengemeinschaft gegründet hat, und Heinrich Giesen, der durch seine Predigten und Andachten nach dem Zweiten Weltkrieg deutschlandweit bekannt wurde.
Zu den evangelischen „Laien“, die zu Wort kommen, gehört Johann Heinrich Jung-Stilling, der nicht zuletzt durch seine Kontakte zu Herrnhut zu einem der großen Anreger der Erweckungsbewegung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert geworden ist. Sachsen wird der Maler Wilhelm von Kügelgen ins Auge fallen, dessen Lebenserinnerungen ihn weit über den Freistaat hinaus bekannt gemacht haben, da sie seit ihrer Erstveröffentlichung im 19. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt wurden. Kügelgen war überdies ein direkter Nachkommen Zinzendorfs.
Auffällig ist die Vielzahl der gekrönten und ungekrönten Häupter Europas, die Herrnhut besuchten. Die Reihe beginnt mit Kaiser Joseph II., den Sohn Maria Theresias, und führt über Kaiser Franz II., den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Zar Alexander I., die Könige Anton und Friedrich August III. von Sachsen bis zu Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Aber auch Johannes Rau und Joachim Gauck waren in Herrnhut zu Besuch.
Gibt es trotz der unterschiedlichen Interessen und Blickwinkel etwas Gemeinsames, was die Erinnerungen und Berichte der genannten Personen miteinander verbindet? Ich habe den Eindruck, dass es der verbindlich gelebte christliche Glaube war, der in Herrnhut ein Gemeinwesen schuf, das seinesgleichen in Deutschland suchte, das Menschen anzog. Neben dem besonderen liturgischen Leben und der besonderen architektonischen Gestaltung des Ortes war dafür jahrhundertelang auch die gemeinsame handwerkliche Arbeit in den Chorhäusern mit qualitativ hochwertigen Produkten verantwortlich. Noch heute beeindruckt der blendend weiße Kirchensaal im Zentrum des Ortes mit seinen spezifisch herrnhutischen Versammlungen wie Singstunde, Liebes- und Abendmahl. Dazu kommt der besondere Herrnhuter Orgelklang. Kaum eine Besucherin oder ein Besucher, der heute nicht einen Herrnhuter Weihnachtsstern aus der Sternemanufaktur mitnehmen würde.
Neben Bildnissen von fast allen dokumentierten Besucherinnen und Besuchern enthält der Band dankenswerterweise auch eine Zeittafel zur Geschichte Herrnhuts und einen ausführlichen Personenindex. Jedem, der einen Eindruck von der Wirkung Herrnhuts auf die jeweiligen Zeitgenossen gewinnen möchte, kann dieses Buch wärmstens empfohlen werden.
Dr. Peter Zimmerling, Professor an der Theologischen Fakultät, Universität Leipzig