Historische Theologie

Carl R. Trueman: The Rise and Triumph of the Modern Self / Strange New World

Carl R. Trueman: The Rise and Triumph of the Modern Self. Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution, Wheaton: Crossway, 2020, Hb., 425 S., US $ 35,–, ISBN 978-1-4335-5633-3

Carl R. Trueman: Strange New World. How Thinkers and Activists Redefined Identity and Sparked the Sexual Revolution, Wheaton: Crossway, 2022, Pb., 204 S., US $ 18,–, ISBN 978-1-4335-7930-1


Am Anfang des Jahres klagte ein Professor des Karlsruhe Institut of Technology (KIT): Wenn er eine Lehrveranstaltung zum Thema „Dieselantriebe“ ankündigt, meldet sich kaum noch ein Interessent. Deshalb müsse die geplante Vorlesung wieder abgesagt werden. Seine Botschaft: Wenn sich die Lage nicht bessert, werden zukünftig in Deutschland keine noch effizienteren Dieselmotoren mehr entwickelt.

Ähnlich wie bei der Entwicklung von Motoren, die nicht mit regenerativen Energiequellen angetrieben werden, ist die Situation der Philosophiegeschichte im theologischen Studium: Wer will sich schon freiwillig damit beschäftigen, und ist diese Anstrengung für den Dienst überhaupt nützlich? Meistens führt die Philosophie als Pflichtschein-Nebenfach an der Theologischen Fakultät ein Schattendasein. – Dass es sich dennoch gerade heute für zukünftige Geistliche lohnt, sich mit Philosophie und hier der Geschichte sozialistischer Ideen zu beschäftigen, zeigt ein in den USA veröffentlichtes Werk des amerikanischen Theologieprofessors Carl R. Trueman: The Rise and Triumph of the Modern Self. Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution (Nov. 2020). Es wurde vom Southwestern Journal of Theology (SWJT) in Kooperation mit den Lehrenden des Southwestern Baptist Theological Seminary im Dezember 2020 als „Buch des Jahres“ ausgezeichnet. Eine kürzere und für einen breiteren Leserkreis gedachte Paperback-Ausgabe zum gleichen Thema hat der Verfasser in diesem Jahr folgen lassen: Strange New World. How Thinkers and Activists Redefined Identity and Sparked the Sexual Revolution (März 2022).

Carl R. Trueman geht von der aktuellen Identitätspolitik und weiteren geistigen Merkmalen der Gegenwart aus und zeigt die philosophischen Wurzeln des heutigen Individualisierungstrends und der sexuellen Revolution auf. Deshalb sind die beiden Bücher besonders auch für freikirchliche und pietistische Gemeinden und Gemeinschaften wichtig, weil bei nachlassender Bibelkenntnis und fehlender Einsicht in die Geistesgeschichte manchmal behauptet wird, zeitgeistige Ansichten bei diesen Themen seien für Christen anschlussfähig.

Dagegen weist Trueman nach, wie es aufgrund philosophischer Prämissen zur Revolution im Selbstverständnis der Menschen in westlich orientierten modernen und postmodernen gesellschaftlichen Strömungen gekommen ist. Der Verfasser will die sogenannte sexuelle Revolution der letzten sechzig Jahre, die in der Normalisierung von Transgender-Deutungen des menschlichen Selbstverständnisses ihren jüngsten Triumph feiert, im Rahmen des gesellschaftlichen Transformationsprozesses verstehen, der zu diesen modernen Formen des Menschseins geführt hat (20).

Trueman folgt in seinen Studien Überlegungen der drei Philosophen Philip Rieff, Charles Taylor und Alasdair MacIntire zur Genese des modernen „Ich“ in einer transformierten Kultur (Teil 1, 35–102).

Im zweiten Teil sucht Trueman Ursprünge des modernen Selbstverständnisses nicht bei Descartes, den er mehrmals erwähnt. Um seine Darstellung nicht ausufern zu lassen, beginnt er im 18. Jh. mit Jean-Jacques Rousseau, kommt dann zu den Romantikern und führt den Leser danach zu Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Charles Darwin (Teil 2, 105–197). Bei Rousseau und der Romantik fängt die Konzentration auf das innere Leben und das Individuum an. Deshalb werden Gesellschaft und Kultur als den eigenen Wünschen entgegenstehend wahrgenommen. Nietzsche und Marx verstärken diese Tendenz; gemeinsam mit Charles Darwin sind sie die Totengräber des teleologischen Verständnisses von Mensch und Welt.

Sigmund Freud steht für die „Sexualisierung der Psychologie“ und die „Politisierung des Geschlechtlichen“. Besonders seit Wilhelm Reich und Herbert Marcuse sind diese Themen nicht mehr voneinander zu trennen. In der Neuen Linken wird, ausgehend von diesen Grundlagen, Unterdrückung als eine fundamentale psychologische Kategorie gesehen. Sie drückt sich vorrangig in der Sexualität aus. Auf diesem Gebiet müssen Menschen von überkommenen Verhaltensvorschriften befreit werden (Teil 3, 201–268).

Der vierte Teil des Buchs zeigt, wie die Entwicklungen der vorangegangenen Jahrhunderte Bereiche der heutigen Gesellschaft und die moderne westliche Kultur verändert haben (Teil 4, 271–382). Im abschließenden Teil (383–407) überlegt Trueman, wie sich Gemeinden und Gläubige in dieser Situation auf die Zukunft vorbereiten können.

Trueman hat mit The Rise and Triumph of the Modern Self kein leicht lesbares, aber ein substanzielles Buch geschrieben. Besonders die Kapitel 3 und 4 im 2. Teil über Rousseau und die hierzulande kaum bekannten Romantiker Wordsworth, Shelley und Blake sind für den deutschsprachigen Leser eher zu umfassend dargestellt. Jedoch wird schon an den vorgestellten Dichtern – und nicht erst an Feuerbach und Nietzsche – deutlich, dass persönliche Freiheitsideale sich von christlichen und kirchlichen Leitbildern und Vorschriften distanzieren müssen. Ihr Atheismus ist nicht neutral, sondern bekämpft die christliche Einehe und andere christliche Moralvorstellungen (131 u. ö.). In bekannte Gefilde taucht dann das 5. Kapitel des 2. Teils ein, wenn Trueman die Formbarkeit (plasticity) des Individuums als Folge aus dem Denken von Nietzsche, Marx und Darwin herleitet (164). Nach dem Tod Gottes muss der Mensch selber Gott sein (170). Neue Modelle der Weltdeutung machen die Metaphysik und ein vorgegebenes Verständnis der Natur überflüssig. Menschliche Sinngebung ersetzt die althergebrachte göttlich legitimierte Funktion und Aufgabe der Natur (192ff).

Seit Sigmund Freud wird die Sexualität als zentrale Kraft der menschlichen Entwicklung und des Menschseins verstanden, weil genitale sexuelle Erfüllung die stärkste Befriedigung erfahren lässt (Kap. 6, 205). Wenn Zivilisation durch Triebunterdrückung entsteht, wird aus der Triebbefreiung konsequent der Kampf gegen kulturelle Verhältnisse, die man als Unterdrückung deuten kann (217ff).

Mit dem Thema der Neuen Linken und der Politisierung des Sex kommt Truemans Darstellung im 7. Kapitel zu den direkten Grundlagen des gegenwärtigen Denkens. Durch eine Kombination marxistischer und freudianischer Elemente entstand das theoretische Grundgerüst der radikalen Identitätspolitik (225). Die politische Szene wird derzeit vom Thema „Identität“ dominiert: Rasse, Sex und Ethnie, nach denen Menschen eingeteilt werden. Opfergruppen sollen mit Hilfe dieser Abgrenzungen die Gerechtigkeit erlangen, die ihnen durch die bis dahin Vorteile genießende Tätergruppe vorenthalten wurde. Hinter dieser Weltanschauung stehen die Vorstellungen der „Kritischen Theorie“, Denker der Frankfurter Schule, Antonio Gramsci, Wilhelm Reich, Herbert Marcuse, Simone de Beauvoir. De Beauvoir wird für die konstruktivistische Sicht der Geschlechter bahnbrechend: Die Frau wird zur Frau gemacht, sie ist es nicht als Körper, durch ihre biologische Konstitution. Die Anthropologie wird revidiert und psychologisiert. Eine sachlich begründete Autorität des physischen Körpers wird abgelehnt (260). Trueman findet bei der „Neuen Linken“ alle Gemeinplätze der Gegenwart: Frei sein bedeutet, sexuell befreit zu sein; glücklich sein heißt, in dieser Befreiung bestätigt zu werden (268).

Die Revolution im Selbstverständnis hat einen dreifachen Triumph als Ergebnis (4. Teil): den Triumph des Erotischen (Kap. 8), das die Feindschaft gegen das Christentum als unterdrückerische bürgerliche Ideologie impliziert (279); den Triumph des Therapeutischen (Kap. 9, nach Philip Rieff: Die Therapeuten sind Priester der „Selbst“-Religion), was sich in Gerichtsurteilen u. a. zu Abtreibung, „hate crime“- und „hate speech“-Anklagen niederschlägt, und den Triumph der Transgender- und Queertheorie, die in der LGBTQ+Bewegung eine eigentümliche und spannungsvolle Koalition mit lesbischen und gay-Interessen eingegangen sind. Das Denken von Judith Butler markiert ein Ende aller stabilen anthropologischen Kategorien (362). „Nur du entscheidest, wer du bist. Nicht dein Vater, nicht deine Mutter, nicht einmal dein Körper kann dir dabei helfen…“ (378).

In einem „Abschließenden unwissenschaftlichen Prolog“ (383) zur zukünftigen Diskussion stellt Trueman Vermutungen an, wie sich die Gesellschaft im Blick auf Inzest, Homoehe, Religionsfreiheit und die Zukunft der Kirche entwickeln wird und wie sich die Kirche entwickeln muss, um in einem veränderten Umfeld zu bestehen. Als einen historischen Vorläufer sieht er die Situation des Christentums im 2. Jahrhundert, als die Kirche eine marginalisierte Sekte in einer pluralistischen Gesellschaft war.

Truemans Werk The Rise and Triumph of the Modern Self hat in den evangelikalen amerikanischen Kirchen und darüber hinaus einen breiten Meinungsaustausch über das christliche Selbstverständnis in der gegenwärtigen Situation ausgelöst. Der auf November angekündigten deutschsprachigen Übersetzung ist zu wünschen, dass sie ebenfalls große Resonanz findet! https://verbum-medien.de/products/der-siegeszug-des-modernen-selbst


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Steinen