Praktische Theologie

Gregor Etzelmüller / Claudia Rammelt (Hg.): Migrationskirchen

Gregor Etzelmüller / Claudia Rammelt (Hg.): Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, Pb., 721 S., € 38,–, ISBN 978-3-374-06769-5


Etwa ein Fünftel der deutschen Bevölkerung sind Menschen mit Migrationshintergrund. Gut die Hälfte von ihnen ist christlichen Glaubens. Im Ruhr- und Rhein-Main-Gebiet werden jeweils etwa 600 protestantische Gemeinden migrationskirchlicher Provenienz geschätzt. Diese Wirklichkeit wird in der öffentlichen, wissenschaftlichen und auch in der kirchlichen Wahrnehmung bislang weitgehend übersehen, weil diese sich stark auf die muslimische Zuwanderung fokussiert. Die etablierten Kirchen im Land müssen sich kritisch fragen lassen, ob sie die Möglichkeiten, die die migrationsbedingte Begegnung mit dem internationalen Christentum bietet, für ihre innerkirchlichen Erneuerungsprozesse ungenutzt vorübergehen lassen wollen. Um diese Herausforderungen aufzunehmen, wurde 2017 der Arbeitskreis „Migrationskirchen in Niedersachsen“ gegründet. Ziel war es, die durch Migration entstandene Pluralisierung gemeindlichen Lebens wissenschaftlich und umfassend zu erforschen und zu einer stärkeren Wahrnehmung zu verhelfen. Theologische und religionswissenschaftliche Arbeiten sollten gebündelt und die Forschung diskursiv weiterentwickelt werden.

Das Leitungsduo dieser Arbeitsgruppe, Gregor Etzelmüller, Professor für Systematische Theologie an der Universität Osnabrück, und Claudia Rammelt, Dr. theol., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum, legten ein fulminantes Œuvre von 721 Seiten vor. Darin dokumentieren sie die Ergebnisse aus dem vierjährigen Forschungsprozess der etwa fünfzigköpfigen Forschungsgruppe und den neun verbunden wissenschaftlichen Instituten. In einer kompakten Einführung beschreiben sie fundiert und gut lesbar die theoretischen Rahmenbedingungen der Forschung. Insbesondere der Forschungsüberblick, die Einordnung migrationskirchlicher Gemeinden als Phänomene der Glokalisierung und die Erörterung ihres religionsproduktiven Potenzials erscheinen bedeutsam. Knapp 40 Einzelbeiträge bieten konkrete Aspekte zum Thema unter drei Leitperspektiven: I. Migration als Thema der Theologie, II. Migrationskirchen – Einblicke und Gegenwartsanalysen und III. Migrationskirchen als Chancen und Herausforderungen der vor Ort etablierten Kirchen. Ein wichtiges Anliegen des Buches ist es, aufzuzeigen, wie sich die globalen Dynamiken und die „Polyzentrik“ des weltweiten Christentums lokal realisieren. Hervorzuheben ist, dass in dem von Claudia Rammelt konzipierten zweiten gegenwartsanalytischen Teil des Buches eine gute Balance zwischen Beiträgen zu Gemeinden der orthodox-altorientalischen Tradition und Gemeinden des außereuropäischen Christentums nicht-orthodoxer Traditionen gelingt. Diese afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Migrationsgemeinden werden in der hiesigen Ökumene bislang oft übersehen. Obgleich die Fülle der Beiträge des Sammelbandes das Thema umfassend und differenziert darstellt und das in der Einleitung gegebene Versprechen eindrucksvoll eingelöst wurde, endet das Buch nicht mit einem Schlusspunkt. Vielmehr setzt Claudia Hoffmann, Dr. theol. und Mitarbeiterin im SNF-Forschungsprojekt „Conviviality in Motion“ an der Theologischen Universität Basel in der Einleitung zum dritten Teil einen Doppelpunkt und weist auf noch bestehende Desiderate in der Migrationskirchenforschung hin. So wurde bislang der Frage nach den Theologien oder der Ökumene wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Der letzte Beitrag von Gregor Etzelmüller nimmt diese Spur auf. Er schlägt einen Bogen von der Feststellung einer ekklesiologischen Problemanzeige (gemeint ist das Nebeneinander von autochthonen und migrationskirchlichen Gemeinden) zu Perspektiven für ein Miteinander in versöhnter Verschiedenheit und zeigt konkrete theologische Lernpotenziale auf.


Dr. habil. Friedemann Burkhardt, Dozent im Bereich Praktische Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell