Praktische Theologie

Michael Schroth: Freie evangelische Gemeinden

Michael Schroth: Freie evangelische Gemeinden. Eine kirchentheoretische Studie im Zusammenhang mit einer empirischen Befragung, Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 100, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, Hb., 370 S., € 80,–, ISBN ‎9-783-5255-6065-5


Michael Schroth ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule der Freien evangelischen Gemeinden in Ewersbach. Mit der vorliegenden Arbeit promovierte er bei Eberhard Hauschildt in Bonn. Sie gliedert sich in einen historisch-analytischen (35–127) und einen empirischen Hauptteil (129–319). Im ersten Hauptteil wird die Entstehung frei-evangelischer Gemeinden als eine spezifische Reaktion des Protestantismus auf die Moderne aufgefasst (62). Im Gegensatz zu den Großkirchen liege das Proprium der Kirche stärker bei der jeweiligen Ortsgemeinde, was einerseits ein hohes Maß an Kontextualität ermögliche, andererseits die Frage nach der Einheit im Bund Freier evangelischer Gemeinden aufwerfe (84).

Im Rahmen seiner Arbeit versteht Schroth Kirche „als kontextuelle, pluriforme und funktionale Sozialgestalt des christlichen Glaubens bzw. von Religion in ihrer frei-evangelischen Fassung“ (23). Mehrdimensionale Kirchenbegriffe der Kirchentheorie ließen sich als „Implikat des Glaubens“ auffassen, aus dem der Autor deshalb auch seinen Kirchenbegriff ableitet. Der Glauben korrespondiere mit einem Mitgliedschaftsmodell, das eine persönliche Entscheidung samt gemeindeöffentlichem Bekenntnis zur Bedingung einer Mitgliedschaft macht und aktive Mitwirkung am Gemeindeleben verlangt. Theologisch wird dieses Modell mit der „freien Gnade“ Gottes begründet, die nicht nur den Glauben in Menschen hervorrufe, sondern sich auch durch „Performanz“ auszeichne: Die Gnade ist wirksam in der Veränderung menschlichen Lebens (102–105). Der bisher in der Kirchentheorie unübliche Begriff der Heiligung wird mit dem Performanz-Begriff somit sachgemäß als von Gott initiiert gekennzeichnet.

Im zweiten Hauptteil legt Schroth Design und Ergebnisse einer quantitativen Sozialstudie dar, bei der über 1.000 der rund 42.000 FeG-Mitglieder befragt wurden. Die Festlegung auf Mitglieder markiert eine Grenze der Befragung, da frei-evangelisches Gemeindeleben zu nicht geringen Teilen von Nicht-Mitgliedern geprägt ist. Schroth lehnte die Befragung zu großen Teilen an die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD an. Er erhellt freikirchliches Leben anhand zahlreicher Auswertungsdimensionen wie Sozialprofil, Eintritt in Mitgliedschaft, Engagement oder liturgische Interaktion. Exemplarisch sei genannt, dass FeG-Mitglieder zu 64,4 % anderen Kirchen (v. a. der evangelischen Großkirche), zu 27,4 % frei-evangelischen Gemeinden selbst und zu 8,2 % einer Konfessionslosigkeit entstammen (174). Mitgliedschaft resultiere dabei – im Gegensatz zur evangelischen Großkirche – überwiegend aus einer Sekundär-, nicht einer Primärsozialisation (176f). Das in der evangelischen Kirchentheorie geläufige Wunschbild einer Beteiligungskirche lässt sich für frei-evangelische Gemeinden beispielsweise anhand des ehrenamtlichen Engagements als gegeben nachweisen. Zugleich bedeutet dies keine Abwendung von der Gesellschaft, im Gegenteil: Engagement in einer FeG macht ein solches auch außerhalb der Gemeinde noch wahrscheinlicher, als dies für Mitglieder der evangelischen Großkirche gilt. Kritisch nimmt der Autor in den Blick, dass in frei-evangelischen Gemeinden die Partizipation sozial Schwächerer erkennbar abfällt (264f).

Im Rekurs auf Hauschildts Hybridmodell der Kirche als Institution, Organisation und Gemeinschaft hält Schroth fest, dass das institutionelle Moment in frei-evangelischen Gemeinden am schwächsten ausfällt. Es stelle sich die Frage, ob die Unbedingtheit des Evangeliums bzw. die „freie Gnade“ nicht deutlicher inszeniert werden sollte. In diesem Zusammenhang spricht sich der Autor dafür aus, anders als bisher eine Mitgliederaufnahme in frei-evangelische Gemeinden an die Taufe bzw. eine Tauferinnerung zu binden (282f).

Prägung und Eigenarten der freien evangelischen Gemeinden fasst Schroth nicht nur beschreibend, sondern auch problematisierend in den Adjektiven „entschieden, partizipativ, vernetzt, authentisch“ zusammen (317f). Schroth ist es herausragend gelungen, Spezifika freikirchlichen Lebens an aktuelle kirchentheoretische Diskurse anzuschließen und damit auch Alternativen zum großkirchlichen Leben etwa hinsichtlich Laienbeteiligung und Spendenkultur empirisch zur Ansicht zu bringen. Damit liefert er wichtige Beiträge zu einer kirchenübergreifenden Kirchentheorie sowie u. a. zur virulenten Frage, wie „lebendiges, mündiges Christsein“ (Michael Herbst) bzw. Jüngerschaft wahrgenommen und entwickelt werden kann.


Johannes Schütt, Klinikseelsorger, Leipzig