Neues Testament

Matthias Konradt: Ethik im Neuen Testament

Matthias Konradt: Ethik im Neuen Testament, Grundrisse zum Neuen Testament. Das Neue Testament Deutsch – Ergänzungsreihe 4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, geb., 540 S., € 85,−, ISBN 978-3-525-51364-4


Matthias Konradt ist Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Seit langer Zeit liegt mit diesem Buch wieder eine Gesamtdarstellung neutestamentlicher Ethik im deutschsprachigen Raum vor. Konradt definiert die Aufgabe des Buchs knapp so: „Gegenstand einer neutestamentlichen Ethik ist die Analyse der theologischen Grundlegung, der leitenden Kriterien und der inhaltlichen Bestimmtheit christlichen Lebenswandels, wie sie in den neutestamentlichen Schriften zutage treten. Um ethische Aussagen im NT adäquat verstehen zu können, ist es dabei unerlässlich, sie traditionsgeschichtlich zu kontextualisieren und im Lichte der antiken Lebenswelt zu betrachten“ (1). Untersucht werden Paulus, die Deuteropaulinen, Markus, Matthäus, das lukanische Doppelwerk und das Corpus Johanneum, Hebräer, Jakobus, 1. Petrus und die Offenbarung. 

Im 2. Kapitel geht Konradt unter der Überschrift „Kontexte und Voraussetzungen“ (17–60) näher auf den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang sowie die antike Lebenswelt der ntl. Ethik ein. Dazu untersucht er 1. verschiedene hellenistische philosophische Ansätze: Platon und die Akademie in Athen, Aristoteles, den Kynismus, den Epikureismus sowie die Stoa. Er geht auch auf popularisierte philosophische Anschauungen und die Alltagsmoral ein. 2. Große Bedeutung hat die an der Tora orientierte ethische Unterweisung im Frühjudentum, deren Traditionen er differenziert darstellt und auf die alltagsrelevanten Bereiche konzentriert. Sie werden durch weisheitliche und pagane philosophisch-ethische Traditionen angereichert. 3. Die ethische Unterweisung Jesu versteht Konradt als Grundimpuls für die frühchristliche Ethik. Inhaltlich werden dabei acht Themenbereiche hervorgehoben.

Am umfangreichsten ist das 3. Kapitel „Paulus: Handeln als lebenspraktische Dimension der Christusteilhabe in der Kraft des Geistes“ (61–183). Grundlage sind die sieben Briefe, die unbestritten von Paulus stammen. Der Glaube ist „für Paulus wesenhaft handlungsorientierter Glaube“ (63). Christliches Verhalten ist christologisch fundiert; die pneumatologische Dimension und der ekklesiologische Horizont sind dem christologischen Fokus zugeordnet. Dies wird im Abschnitt „Theologische Grundlagen“ überzeugend begründet und entfaltet (63–83). Traditionen, die Paulus in seiner Ethik aufnimmt, sind vor allem die Tora, aber auch ethische Traditionen der griechisch-römischen Antike sowie die Jesustradition und die frühchristliche Gemeindeparänese. Nach Konradt ist die Liebe (ἀγάπη) Leitmotiv paulinischer Ethik. Sie hat die zentrale Rolle sowohl in der grundlegenden Gemeindeunterweisung (1Thess; Röm 12–13) als auch in der Erörterung konkreter ethischer Herausforderungen (94). Dies wird unter den Themen „Die Agape und die Rücksicht auf die Schwachen“, „Die Agape und die Auferbauung der Gemeinde in 1Kor 12–14“, „Die Annahme des Onesimus als Manifestation der Agape im Phlm“ und „Die Kollekte für Jerusalem als Manifestation der Agape“ überzeugend exegetisch begründet. Ein eigener Abschnitt ist dem Verhältnis der Liebe zum Gesetz gewidmet (114–120). Als Ergebnis stellt Konradt fest, dass Paulus die Betonung der Agape als ethischen Leitwert nicht erfunden hat, sondern „er hat das auf dem Boden jüdischer Ethik in den nachösterlichen Gemeinden virulente Agapekonzept übernommen und zeigt Ansätze zur christologischen Vertiefung und Transformation dieses Konzepts“ (121). Ein weiteres Leitmotiv ist die Demut, sodass gesellschaftliche Statusunterschiede in der Gemeinde keine Rolle spielen. „Leitend ist vielmehr das Bild einer Gemeinschaft, deren Glieder sich in der Achtung der jeweils anderen zuvorkommen“ (122). Die Leitmotive werden in ethischen Konkretionen angewandt, und zwar in den Bereichen: Sexualität und Ehe; Besitzethik, Wohltätigkeit und Arbeit; Sklaverei sowie Unterordnung unter die Obrigkeiten. Das Kapitel wird mit einem „Rückblick: Ethische Orientierung und Urteilsfindung bei Paulus“ abgeschlossen. Für die Christen geht es nach Röm 12,2 „um die Gewinnung und Ausprägung ethischer Urteilsfähigkeit und das Vermögen, die christusförmige Ausrichtung an den Belangen der Mitmenschen situativ angemessen zu praktizieren“ (171).

Im 4. Kapitel geht es um die Weiterführung und Transformation der paulinischen Ethik in den deuteropaulinischen Briefen (184–241), und zwar in drei Abschnitten: „Kolosserbrief: Leben unter der Herrschaft Christi“, „Epheserbrief: Leben als Glieder des einen Gottesvolkes“ und „Pastoralbriefe: Der universale Heilswille Gottes und die gesellschaftliche Kompatibilität christlicher ethischer Überzeugungen“. Der christologische und soteriologische Ansatz der ethischen Aussagen entspricht im Kolosser- und Epheserbrief im Wesentlichen den unumstrittenen Paulusbriefen, ebenso der hohe Stellenwert der Handlungsdimension des Glaubens und das Leitmotiv der Agape. Ein Novum stellen die Haustafeln in Kol 3,18–4,1 und Eph 5,21–6,9 dar. In ihnen wird die bestehende Gesellschaftsordnung vorausgesetzt, aber das Verhalten in diesem Rahmen christlich qualifiziert. Insbesondere wird ein respektvoller und liebevoller Umgang der Ehepartner miteinander angemahnt, wobei dies im Epheserbrief durch den Vergleich zwischen Christus und der Gemeinde und durch die Aufforderung zur wechselseitigen Unterordnung in Eph 5,20 stärker profiliert wird. Betont hervorgehoben sind im Epheserbrief „die Gestaltung der kirchlichen Einheit und die Abgrenzung von der ,heidnischen‘ Welt“ (210). In den Pastoralbriefen sieht Konradt als zentralen ethischen Aspekt die „Universalität des Heilswillens Gottes“ (220). Indem die Außenwirkung der Lebensgestaltung stärker im Blick ist, ist der Einfluss der gesellschaftlichen Konventionen stärker. Nach Konradt liegt in den Pastoralbriefen „eine einseitige, konservative Transformation des paulinischen Erbes vor“ (230).

In den Kapiteln 5–7 werden die synoptischen Evangelien behandelt; Lukas wird um die Apostelgeschichte zum lukanischen Doppelwerk ergänzt. Den ethischen Ausführungen werden jeweils die theologischen Grundlagen vorangestellt. Im Markusevangelium (242–259) wird die Nachfolge der Jünger zur Kreuzesnachfolge vertieft. „Hinsichtlich des zwischenmenschlichen Verhaltens erfährt die Nachfolge ihre grundlegende Bestimmung durch den Aspekt des Dienens“ (252). Bei den Fragen des Lebensalltags werden die Unauflöslichkeit der Ehe sowie die Wertschätzung der Kinder betont sowie die Besitzfrage und die Vergebungsthematik angesprochen. – Im Matthäusevangelium stellt Konradt das große Gewicht der Handlungsdimension christlichen Lebens heraus. „Matthäus’ ethischer Ansatz ist fundamental durch den konstitutiven Bezug auf die Willenskundgabe Gottes in der Tora gekennzeichnet“ (267). Dabei gewichtet er die Gebote, d. h. das Liebesgebot und die Gebote – insbesondere des Dekalogs –, die den zwischenmenschlichen Bereich betreffen, sind wichtiger als kultische Gebote. Das Doppelgebot der Liebe und die Barmherzigkeit sind die ethischen Leitperspektiven für die Interpretation des Gotteswillens. Die Gottesliebe und die Nächstenliebe fungieren „insofern als oberste Prinzipien, als die Befolgung anderer Gebote mit dem Doppelgebot der Liebe nicht in Konflikt geraten darf“ (285). „Die Befolgung der Tora in ihrem von Jesus vermittelten Verständnis“ und die Nachfolge Jesu bilden eine Einheit (281). Unter dem Schwerpunkt „Nachfolge und Nachahmung Jesu subsumiert Konradt als weitere Aspekte der matthäischen Ethik Jesus als ethisches Vorbild sowie Selbsterniedrigung und Vergebungsbereitschaft als ethische Leitaspekte. – Bei Lukas ist „die Barmherzigkeit Gottes … das Fundament, auf dem Leitthemen der lk Ethik, die Zuwendung zu den Sündern und zu den Bedürftigen, ruhen“ (327). Im Zentrum der christlichen Lebensführung steht die Orientierung an Jesus und seiner Unterweisung. Darin sind Liebe und Barmherzigkeit ethische Leitperspektiven, die auch die Feindesliebe einschließen. Als zentrale ethische Anliegen im lukanischen Doppelwerk nennt Konradt das „mit der Zuwendung zu den Sündern verbundene Vergebungsethos“ und die „karitative Verwendung von Besitz“ (344). Ausführlich geht Konradt auf die Besitzethik ein (348–374). Er kommt dabei zu dem Ergebnis: „Besitz verpflichtet zu karitativem Engagement, und für Lukas ist es ein Wesensmerkmal des Christseins, dass es in Erfüllung des Liebesgebots und in Entsprechung zur Sorge Gottes für die Armen zu karitativ ausgerichtetem Besitzverzicht kommt“ (372f), so „dass von denen, die dazu in der Lage waren, großzügige Unterstützungsleistungen erwartet wurden“ (373). 

Im 8. Kapitel wird von der Theologie und Ethik der Liebe im Corpus Johanneum (Evangelium und Briefe) gesprochen (385–412). „Die Liebe zueinander basiert auf und ist Entsprechung zur Liebe Christi“ (400). „Der Ton lieg in den joh Schriften auf der Liebe in ihrer innergemeindlichen Dimension, in der sie durch ihre christologische Verankerung zu einer sich selbst hingebenden Liebe intensiviert ist“ (407), und zwar vor allem gegenüber den Glaubensgeschwistern. Von Joh 3,16, der universalen Zuwendung Gottes, und der Sendung der Jünger in die Welt ist sie nicht exklusiv zu verstehen.

Die Kapitel 9–12 untersuchen den Hebräer- (413–424), den Jakobus- (425–452) und den 1. Petrusbrief (453–470) sowie die Offenbarung (471–486); darauf kann angesichts des begrenzten Umfangs der Rezension hier nicht eingegangen werden. Im letzten Kapitel bietet Konradt einen Rückblick und ein Resümee: „Pluralität, Komplementarität und Leitperspektiven neutestamentlicher Ethik“ (487–502). 

Es lohnt sich, das Buch gründlich zu studieren. Durch die Aufnahme der atl.-frühjüdischen Traditionen und den Vergleich mit der antiken Lebenswelt und ihren ethischen Traditionen treten die Aussageintentionen der ntl. ethischen Aussagen deutlich hervor. Zu loben ist die gründliche exegetische Arbeit, die zu differenzierten Urteilen führt. Die wesentlichen Motive und Leitperspektiven der ntl. Schriften werden herausgearbeitet und prägnant formuliert. Das Ziel des Buchs, zu zeigen, dass „es sich auch im Blick auf heutige Fragen christlicher Lebensorientierung lohnt, sich mit“ den ethischen Vorstellungen im NT „zu befassen und auch die hermeneutischen Mühen der Übersetzungsarbeit auf sich zu nehmen“ (502), hat Konradt meiner Meinung nach erreicht. Daher kann ich das Buch nur empfehlen.


Dr. Wilfrid Haubeck, Professor em. für Neues Testament und Griechisch an der Theologischen Hochschule Ewersbach in Dietzhölztal