Neues Testament

Paul-Gerhard Klumbies: Neutestamentliche Debatten von 1900 bis zur Gegenwart

Paul-Gerhard Klumbies: Neutestamentliche Debatten von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck 2022, Br., XI+214 S., € 19,−, ISBN 978-3-16-161535-1


Klumbies ist Professor mit dem Schwerpunkt Neues Testament an der Universität Kassel. Sein Buch über neutestamentliche Debatten hat ein kleines Format; in einem für wissenschaftliche Publikationen verwendeten größeren Format (etwa 17×24 cm) würde es nur etwa 150 Seiten umfassen. Für Klumbies war Bultmann der zentrale Neutestamentler im 20. Jh.; das zeigt sich bereits daran, dass dessen Name in der Überschrift von vier Kapiteln vorkommt, während andere Namen maximal in einer einzigen Überschrift erscheinen, nämlich: Albert Schweitzer, Wrede, Harnack, Käsemann sowie der Philosoph Schopenhauer, dem Klumbies einen großen Einfluss zuschreibt, auch wenn er in der Theologie nur selten erwähnt wurde (132–139). Auch durch das Sachregister und insb. durch das Personenregister werden Klumbies‘ Bewertungen deutlich: Von den mehr als 160 Namen kommt Bultmann am weitaus häufigsten vor, gefolgt von Harnack, dessen konservative „Gegenspieler“ Theodor Zahn und Adolf Schlatter nie erwähnt werden. In der Häufigkeit folgt Käsemann. Nie erwähnt werden die einflussreichen Neutestamentler Joachim Jeremias, Alfred Wikenhauser, Martin Hengel, Klaus Berger, Kurt Aland. Auch die britischen Theologen F. F. Bruce, John A. T. Robinson, N. T. Wright oder Richard Bauckham fehlen. Die Darstellung beschränkt sich weitgehend auf den evangelischen deutschen Sprachraum.

Als Kritiker der Formgeschichte werden die Schweden Riesenfeld und Gerhardsson sowie Rainer Riesner besprochen. Dieser Richtung unterstellt Klumbies eingangs, dass sie nicht aus sachlichen Gründen kritisiert, sondern aus einem psychologischen Motiv heraus: „Aus einem theologisch konservativen Lager wurden Einwände aus der Befürchtung heraus vorgetragen, der historische Jesus würde in fragmentarisierte Erzählungen aus nachösterlicher Zeit aufgelöst.“ (152) Die Ansicht, dass die mündliche Weitergabe durch das Auswendiglernen „im Ergebnis wesentlich wortgetreuer als schriftliche Überlieferungen“ wäre, wobei „die Vielzahl der Abschreibefehler“ bei der Weitergabe der ntl. Schriften „den Qualitätsunterschied der beiden Überlieferungsmodi dokumentiere“ (154), vertritt jedenfalls Riesner nicht. Klumbies gibt hier nicht an, bei wem er eine solche Sichtweise gefunden hat. Dass Jesu Worte von seinen Anhängern auswendig gelernt wurden, meint Klumbies dadurch widerlegen zu können, dass Mt und Lk „das Zentralgebet der Christusglaubenden, das Vaterunser“, „in zwei voneinander abweichenden Fassungen“ wiedergeben (154). Dieser Befund wird – was Klumbies nicht erwähnt – von Riesner damit erklärt, dass die Mt-Fassung aus liturgischen Gründen durch in anderen Situationen gesprochene Jesusworte (z. B. „dein Wille geschehe“ in Gethsemane) ergänzt wurde (genau erläutert von Riesner bereits in der 1.Auflage seines Buches „Jesus als Lehrer“, 1981, 446). Klumbies meint: „Die Hypothese der stabilen Kontinuität mündlicher Jesusüberlieferung hat sich nicht breit durchgesetzt.“ (154) Aber etwa Lukas Bormann meint zur Wirkung Jesu, „dass von Anfang an seine Worte festgehalten, memoriert und aufgezeichnet wurden“ (so in dem von ihm hgg. Band „Neues Testament. Zentrale Themen“, 2014, S. 1).

Aufschlussreich sind manche eingestreute Anekdoten. Kurz vor 1980 hatte Klumbies als Student in Münster/Westfalen nach einer Paulus-Vorlesung von Günter Klein diesen gefragt, welche ntl. amerikanische Literatur er zum Lesen empfehle. Darauf Klein: „Was wollen Sie denn da lesen? Das sind doch alles Fundamentalisten!“ (163) Fundamentalisten werden von Klumbies einige Male erwähnt, etwa bei der Reaktion auf Bultmanns Entmythologisierungs-Aufsatz von 1941: „die Auferstehung Christi ist kein historisches Ereignis“, hatte Bultmann geschrieben (140). Klumbies weiter: „Viele fundamentalistisch und neopietistisch orientierte Gruppen in den evangelischen Landeskirchen reagierten empört auf das, was sie als Angriff auf ihre angestammten traditionellen Überzeugungen ansahen, und formierten sich zum Kampf für die Wahrheit, wie sie sie verstanden.“ Dass damals von Konservativen auch theologische Argumente gegen Bultmanns Sichtweise vorgebracht wurden, erfährt der Leser nicht. Der Widerstand gegen Bultmann erscheint als emotional, starr und kämpferisch, jedenfalls nicht als rational.

Am Ende seines Buches erwähnt Klumbies den Verweis-Charakter der ntl. Schriften. Deren „Gegenstand ist das Glaubensgeschehen, das der Textentstehung vorausliegt“ (187). Worin besteht dieses „Glaubensgeschehen“? Das historische Wirken Jesu wird hier ja nicht gemeint sein – von einem Theologen, der in der Tradition Bultmanns steht. Gemeint ist wohl der nachösterliche Glaube der Jünger: An diesen Glauben glaubt der Exeget; dessen „gegenwärtiger Glaube erkennt, dass in den Schriften des Neuen Testaments sich Gott als Gott zu Wort meldet“ (188). Die ntl. Wissenschaft sollte nicht nur „die Analyse tradierter antiker Gottesverständnisse“ im NT ermitteln (189), sondern „statt Gottesvorstellungen allein historisch zu rekonstruieren, Gott als bleibenden Bezugspunkt der Textinterpretation in den Blick“ nehmen. Damit ist ein wichtiges Anliegen angesprochen, das sich aber im Rahmen der historisch-kritischen Theologie, die bei Klumbies eine Monopolstellung hat, kaum verwirklichen lässt. Diese Richtung betrachtet die ntl. Schriften in einem naturalistischen Rahmen, also unter Ausklammerung von Gottes Wirken. Es handelt sich demnach um die Ergebnisse menschlicher Erfahrungen und Überlegungen, die dann im Anschluss kaum zu einer zuverlässigen Erkenntnis Gottes führen. Wenn wir den Evangelien – wie auch Klumbies meint – kaum entnehmen können, was der historische Jesus sagte und tat, können wir durch solche Texte Gott, der sich besonders in seinem Sohn offenbarte, kaum besser kennenlernen.

Nebenbei meint Klumbies in Bezug auf den Trialog der monotheistischen Religionen, es sei ein „Kurzschluss“, dass die Anhänger dieser drei Religionen „alle an denselben Gott“ glauben (190). 

Fazit: Klumbies konzentriert sich bei seiner Darstellung der wesentlichen ntl. Debatten seit 1900 auf die historisch-kritische Richtung, wobei er insbesondere Bultmann stark herausstellt und konservative Neutestamentler kaum zu Wort kommen lässt. Insofern liegt hier nur ein einseitiger Ausschnitt aus dem Ringen um theologische Erkenntnis vor.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik