Sven Grosse: Ich glaube an die Eine Kirche
Sven Grosse: Ich glaube an die Eine Kirche. Eine ökumenische Ekklesiologie, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2015, geb., 284 S., € 34,90, ISBN 978-3-506-78297-7
Der Titel klingt spannend: Eine Kirche und eine ökumenische Ekklesiologie – eine beachtliche Aufgabe, da gerade Unterschiede in der Ekklesiologie schon als „Grunddifferenz“ zwischen den Kirchen markiert wurden. Grosse schreibt ausdrücklich als Glied und Amtsträger der evangelisch-lutherischen Kirche, wobei er sich im Gespräch mit römisch-katholischer und reformierter Ekklesiologie befindet und in einem Unterkapitel auch auf die Freikirchen eingeht. Die orthodoxe Kirche behandelt er in gelegentlichen Hinweisen. Das Buch enthält drei Hauptteile: 1) Das Wesen der Kirche, 2) Amt und Ämter in der Kirche, und 3) Die Gefährdungen der Kirche und ihre Überwindung. Am Schluss werden ein Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister geboten. Lateinische Zitate werden häufig in den Fußnoten übersetzt. Im Folgenden kann das an Themen sehr reichhaltige Werk nur in Auswahl dargestellt werden, wobei ich der Sicht der Freikirchen besondere Aufmerksamkeit widme.
Im ersten Hauptteil legt Grosse das Wesen der Kirche entlang der ekklesiologischen Hauptfragen dar: Kirche ist die heilige Gemeinschaft von Gläubigen, von Christus zusammengefügt durch Wort und Sakrament. Die Kirche ist als Leib Christi mit ihm verbunden, analog zur Verbindung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus. Wegen dieser Einheit mit Christus ist es möglich, von der Kirche als einer Kollektivperson zu reden. Die universale Kirche bildet eine umfassende Einheit und Ganzheit, die über der Verschiedenheit der Lokalgemeinden steht.
Dem Thema „Amt“ widmet Grosse den ganzen zweiten Hauptteil. Der Amtsträger handelt Christus gegenüber als Stellvertreter der Kirche und der Kirche gegenüber als Stellvertreter Christi. Besonders damit begründet Grosse die Ablehnung der Frauenordination: Die Repräsentation Christi kann nur durch einen Mann geschehen. Für das rechte Handeln im Amt braucht der Amtsträger eine besondere Gnadengabe mit lebenslanger Gültigkeit (ähnlich dem character indelebilis). Eine zentrale Leitung der Kirche durch eine Person (Papsttum) kann Grosse als außerordentliche Möglichkeit sehen, nicht aber als verbindliche Ordnung.
Der dritte Hauptteil ist den Gefährdungen der Kirche und ihrer Überwindung gewidmet. Grosse sieht im Wesentlichen deren drei: 1) Die Verweltlichung der Kirche, 2) die Tyrannei in der Kirche und 3) die Spaltungen in der Kirche. Während die Tyrannei heute nicht vorherrschend ist, sind die beiden anderen Gefährdungen aktuell. Der Säkularisierungsprozess bewirkt, dass die Kirche immer mehr Menschen beinhaltet, deren Prinzipien und Auffassungen nicht mehr dem Glauben entsprechen. Die von Grosse favorisierte Antwort darauf wäre, „… die Gliedschaft in einer Kirche, die zum größten Teil säkularisiert ist, als volksmissionarische Aufgabe aufzufassen …“ (216). Sind die Leitenden selbst säkularisiert, kann eine Situation der Tyrannei entstehen. Dann wäre ihnen der Gehorsam aufzukünden, wenn auch die Kirche noch besteht. Ein Verlassen der Kirchenstruktur wird dann unausweichlich, wenn kein Evangelium mehr gepredigt wird, die Sakramente missbraucht werden und „keine Aussicht besteht, dass dies in nicht allzu ferner Zeit anders wird“ (217).
An dieser Stelle taucht die Frage nach der Freikirche auf. Hier wird die Taufe häufig an die Bekehrung gebunden. Zu klären ist also die Bedeutung von Bekehrung und Taufe. Grosse möchte von drei Typen von Bekehrung reden: 1) Die Hinwendung eines von Gott abgewandten Menschen zum Evangelium, 2) Die Rückkehr eines Menschen, der sich vom Glauben abgewendet hat, und 3) Die Kontinuität des Glaubens bei einem Menschen, der in eine Glaubenstradition hineingeboren wird – der von einer „subjektübergreifenden Bekehrung“ her lebt (221). Nun ist für die Kirche eine Bekehrung des Typs 3 der Regelfall. Bei kleinen Kindern tritt deshalb der Glaube der Kirche an die Stelle des fehlenden persönlichen Glaubens, der im weiteren Lebensverlauf entstehen soll. Fruchtbar können sich Freikirchen nach Grosse dann auswirken, wenn sie sich als ecclesiolae in ecclesia verstehen, also akzeptieren, dass ihre „größere Konzentration an Glaubensernst“ der Gesamtkirche nutzt, welche einen weiteren Umfang als sie hat. Ferner sollten sie die Säuglingstaufe der Kirche anerkennen, statt Eintrittswillige erneut zu taufen, sowie eine gemeinsame Leitung der gesamten Kirche, gegenüber der auch Lehre und Sakramentsspendung zu verantworten wären.
Schließlich kommt Grosse direkt zum ökumenischen Anliegen seines Buches: die Überwindung von Spaltungen. Das Ringen um die sichtbare Einheit der Kirche beginnt mit demütiger Buße für die Schuld der Vergangenheit. Lehrgespräche klären und zeigen auf, dass die zentralen Lehr-Konsense (Trinität und Menschwerdung) wichtiger sind als problematische Lehren, die einzelne Kirchen hinzugefügt haben können.
Grosses Werk ist in der Tat eine ökumenische Ekklesiologie, insofern, als er sich häufig im Gespräch mit katholischen Positionen befindet und die Möglichkeit eines Konsenses auslotet (Herleitung der Kirche als Kollektivperson und ihre Einheit, Stellung zum Papsttum, Amtsverständnis, Begründung der Ablehnung der Frauenordination usw.). Als Freikirchler wird man freilich des Öfteren empfinden, dass man bei diesem Gespräch etwas „nebendran“ steht, auch weil Positionen, die für freikirchliche Ekklesiologie vielfach von Bedeutung sind, eindeutig zurückgewiesen werden (Kongregationalismus, Taufverständnis). Es scheint etwas dürftig zu sein, wenn Ökumene für Freikirchen bedeutet, dass sie als ecclesiolae in ecclesia zu landeskirchlichen Gemeinschaften werden! Weitere Anfragen von freikirchlicher Seite wären: 1) Zum Verständnis der Kirche als Subjekt – als Kollektivperson, die sich durch Kontinuität ausweist – welches die reale Einheit der Kirche theologisch begründet: Das Subjektsein der Kirche ist bei Grosse christologisch abgeleitet (Inkarnation als Analogie zur Verbindung Christus-Kirche), m. E. die Ursache für die empfundene Nähe seines Entwurfes zur katholischen Theologie. Demgegenüber: Ist nicht die Einwohnung des Geistes in den Gläubigen der kirchenbegründende Vorgang (vgl. 1Kor 12,13), so dass die Verbindung Kirche-Christus durch den Geist geschaffen wird; und bestehen dann nicht wichtige Strukturunterschiede zwischen der Einwohnung des Geistes und der Inkarnation? Eine pneumatologische Begründung der Kirche führt zu einer anderen Fassung des Verhältnisses Gesamt- und Lokalkirche, sowie des Amts- und des Sakramentsverständnisses. 2) Zur Taufe und ihrem Verhältnis zur Bekehrung: Ist eine Taufe „auf Hoffnung hin“ (wie die Säuglingstaufe) denn im Neuen Testament bezeugt? Ist sie nicht ein Vorgriff ins Unverfügbare? Auch wer im Prozess einer Bekehrung 3. Typs aufwächst, steht irgendwann vor dem bewussten Glaubensschritt, dem die Taufe dann folgen kann.
3) Zur Sammlung einer ecclesiola in ecclesia innerhalb der Kirche: Das Konzept des corpus permixtum wird hier vorausgesetzt, erscheint mir jedoch vom Neuen Testament her fraglich. Es lässt sich sicher nicht ausschließen, dass sich in der Kirche Ungläubige befinden, aber kann dies zum ekklesiologischen Prinzip gemacht werden?
Grosse hat ein ekklesiologisches Werk vorgelegt, welches in fast alle möglichen Richtungen gründlich durchdacht ist. Für die Herausforderung und Diskussionsgrundlage ist ihm zu danken.
Dr. Andreas Hahn, Pastor, CH-6280 Hochdorf
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