Systematische Theologie

Bernd Stegemann: Identitätspolitik

Bernd Stegemann: Identitätspolitik, Fröhliche Wissenschaft 227, Berlin: Matthes & Seitz, 2023, Klappenbroschur, 110 S., € 12,–, ISBN 978-3-7518-3002-7


Die Frage der Identität beeinflusst mittlerweile zahlreiche Debatten – sei es auf philosophischer oder politischer, auf sozialer oder auch auf kirchlicher Ebene. Bernd Stegemann ist Professor an der staatlichen Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und bietet als Kultursoziologe eine kompakte, kritische Einführung in besagte Thematik. In der Einleitung skizziert Stegemann das grundsätzliche Anliegen und die Problematik von Identitätspolitik, wobei er darin vor allem „eine Stressreaktion auf die Zersplitterung der Gesellschaft“ (10) sieht.

In Kapitel 1 stellt er die These auf, dass in der Betonung der Identität historisch gesehen die älteste Form von Politik angewandt wird: Die Sehnsucht nach Anerkennung des Einzelnen, die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, die Einteilung der Welt in bestimmte Kategorien sowie die Legitimation der eigenen Anliegen sind nur einige identitätspolitische Charakteristika, die sich sowohl in antik-archaischen Kulturen als auch in eher spätmodernen Gesellschaften finden lassen. Dem wiederum stellt der Autor universalistische Ansätze im Sinne von Habermas und Luhmann entgegen, bei denen man Interessen neutraler formuliert und auf das gemeinsame Aushandeln von Entscheidungen durch Argumente abzielt.

Ab Kapitel 2 untersucht der Autor die Denkweise neuerer Identitätspolitik sowie deren Ringen um soziale Anerkennung, sei es in rechter oder linker Couleur. Widersprüchlich scheint ihm die Hervorhebung bestimmter ultimativer Identitätsmerkmale, gepaart mit der oft empörten Forderung nach Gleichheit, die sich bei kontinuierlicher Betonung und Thematisierung eben dieser identitätsbildenden Diskriminierungserlebnisse dann logischerweise schwerlich umsetzen lässt. Dabei diagnostiziert Stegemann der neuen Identitätspolitik in Kapitel 3 vor allem zwei Hypotheken: Erstens ist da die Nutzung eines ‚strategischen Essentialismus‘, der (im Sinne postkolonialer Befreiungsbemühungen) die Ungleichheit einer unterdrückten Identitätsgruppe betont, um durch den eigenen Einfluss die Ungleichheit schließlich abzuschaffen, wobei die jeweilige Gruppe dann wieder besondere Regeln und Privilegien für sich beansprucht. Dies stärke „in der politischen Praxis die Seite des rechten Essentialismus“ (29). Zweitens ist da eine problematische Allianz mit einem progressiven Neoliberalismus, der genuin soziale Fragen kaum bis gar nicht berücksichtigt.

Während der Autor in Kapitel 4 die Fähigkeit intersektionaler Ansätze dahingehend hinterfragt, dass sie echte Gerechtigkeit im Sinne früherer Klassenpolitik fördern könnten, dekonstruiert er in Kapitel 5 die identitätspolitische Kritik am Universalismus. Mit dem Verweis auf historische Ungleichheiten und dem Missbrauch universalistischer Sichtweisen seien diese noch längst nicht widerlegt und obsolet; auch werde durch die Betonung eines Partikularismus letztlich der Gleichheit aller Menschen der Boden entzogen, so Stegemanns Überzeugung.

Eine weitere Auffälligkeit sind die doppelten Standards, auf die der Autor in Kapitel 6 zu sprechen kommt, bevor er im darauffolgenden Kapitel besondere Kipp-Punkte der Identitätspolitik herausarbeitet, die eine kernige Kritik durchaus rechtfertigen. Die Kapitel 8 und 9 nennen konkrete Beispiele, in denen sich die Denkweise als ideologische Sackgasse erwiesen hat. Zusätzlich skizziert der Autor darin, inwiefern hier eine problematische Machpolitik erkennbar wird, bei der die „Unterwanderung von zivilisatorischen Standards als fortschrittliche Bewegung gilt“ (92).

In Kapitel 10 ringt Stegemann noch einmal mit seinen Lesern und liefert ein ernstes Plädoyer für die menschenfreundliche, regulative Idee der universellen Gleichheit als Kern einer demokratischen Gesellschaft, bevor er in seinem Nachwort einen eher pessimistischen Ton anschlägt. Mit Blick auf die Zukunft lautet die Mahnung des Professors: „Der Universalismus stirbt so wie die Demokratie nicht an ihren Gegnern, sondern an der Mutlosigkeit ihrer Verteidiger“ (101).

Als Kultursoziologe nähert sich der Autor einem komplexen wie kontroversen Thema, das intellektuell herausfordert und zugleich Konsequenzen für das reale Leben hat. Sein Ansatz ist im Kern ideengeschichtlich. Er schreibt nicht neutral-deskriptiv, sondern eher essayistisch, dennoch ist er um Transparenz und Differenzierungen bemüht. Zwar wendet Stegemann seine Analysen und Anfragen auf alle Arten der Identitätspolitik entlang des politischen Spektrums an, doch richtet sich seine Kritik vor allem an linkspolitische Auswüchse – wohl, weil sie aus seiner Sicht klassisch sozialdemokratische Axiome untergraben. Weiterführende Überlegungen zum rechten Populismus wären hier sicherlich noch zusätzlich interessant und relevant gewesen.

Eindrücklich ist, wie sehr sich Stegemann den Idealen und Errungenschaften der europäischen Aufklärung und Demokratie verpflichtet fühlt und davon ausgehend ideologische Irrwege und Extreme kritisiert. Manche seiner Gedankengänge erinnern an die Arbeit von Omri Boehm. Grundsätzlich ist Stegemann eher religionskritisch eingestellt und übergeht leider komplett den fundamentalen Beitrag des Christentums zu dem Ideen- und Wertekontinuum von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten in Europa. Während die ethische Stoßkraft seiner Kritik und Lösungsvorschläge deutlich erkennbar ist (z. B. zur Machtkommunikation oder zum Thema interpersoneller Empathie), bleibt die ontologische Grundlage seines Universalismus jedoch ungeklärt und verharrt auf einer universalanthropologischen Ebene.

Letztlich präsentiert Stegemann eine kompakte, pointierte Auseinandersetzung mit den Dynamiken und Denkwegen der zeitgenössischen Identitätspolitik. Mit Blick auf den Inhalt und die Form bietet sich das Buch vor allem als anregende Einführung an, die zum intensiven Weiterdenken einlädt. Es ließe sich darüber hinaus als apologetische Ressource nutzen, ebenso als Impulsgeber in Lehrveranstaltungen, z. B. zur theologischen Anthropologie, zur politischen Ethik, für die praktisch-theologische Kulturanalyse und sogar mit Blick auf Fragen von Ekklesiologie und Gemeindearbeit.


Daniel Vullriede, M.A., Dozent am Bibelseminar Bonn und IBEI Rom