Systematische Theologie

Timothy J. Keller / John D. Inazu (Hg.): Uncommon Ground

Timothy J. Keller / John D. Inazu (Hg.): Uncommon Ground. Living Faithfully in a World of Difference, Nashville: Nelson, 2022, kt., xxii+214 S., € 16,–, ISBN 978-1-4002-1960-5


Wie kann man seinem Glauben in einer Welt voller Fremdheit treu bleiben? Der Buchtitel verrät bereits einiges über die Absicht der amerikanischen Herausgeber John D. Inazu, Professor für Recht und Religion in St. Louis, und Timothy J. Keller, Pastor der Redeemer Presbyterian Church in Manhattan, mittlerweile verstorben (1975–2023). Die zentrale Frage des Buches lautet: Wie können Christen auf ihre Mitmenschen zugehen, indem sie einerseits gerade die Menschen respektieren, deren Überzeugungen und Praktiken sich von den ihren Unterscheiden, und andererseits ihr Vertrauen in das Evangelium bewahren? Dieser Frage gehen die Herausgeber gemeinsam mit zehn Autoren nach. Ziel ist es, die Negation des Titels in ein Positiv zu verwandeln: eine gemeinsame Basis über tiefe und schmerzhafte Differenzen hinweg (common ground).

In westlichen Ländern fehlt es an einer gemeinsamen Basis über die Dinge, die den Menschen am wichtigsten sind. Die Herausgeber nennen dazu exemplarisch die DNA einer Nation, das Wohl der Allgemeinheit und die Bedeutung des menschlichen Wohlbefindens, ohne über den Sinn des Lebens als eine weitere, sehr zentrale Differenz zu sprechen zu kommen (xv). Diese Differenzen nennt man Pluralismus und sie spalten unsere westliche Gesellschaft.

Die Christenheit sollte darauf nicht mit Weltflucht reagieren, sondern Andersdenkenden mit christlichen Werten wie Demut (humility), Geduld (patience) und Toleranz (tolerance) begegnen. Diese Werte leiten die Autoren direkt aus der Bibel ab: „Überhebt euch nicht über andere, seid freundlich und geduldig! Geht in Liebe aufeinander ein! [..] Stattdessen wollen wir die Wahrheit in Liebe leben“ (Eph 4,2.15).

Demut ist die Einsicht, dass Christen und auch Nichtchristen nicht immer beweisen können, ob etwas wahr oder falsch ist. Weil Christen um die Grenzen der Vernunft wissen, können sie anderen Meinungen in der Öffentlichkeit mit Demut begegnen. Geduld wiederum hilft, dem anderen aktiv zuzuhören, ihn verstehen zu wollen und gegebenenfalls nachzufragen. Auf diese Weise kann der Christ mehr Gemeinsamkeiten mit seinem Gesprächspartner finden, als ihm bewusst war. Darüber hinaus kann der Christ in einer Welt voller Unterschiede geduldig und hoffnungsvoll bleiben, weil er das Ende dieser Welt schon kennt. Der dritte Wert ist die Toleranz. Der Christ muss andere Ansichten und Praktiken nicht akzeptieren oder gar gutheißen, er kann sie vielmehr ertragen. Dabei kann er den Gesprächspartner von Konzepten trennen und mit ihm eine Begegnung der Nächstenliebe suchen.

Diese Werte werden in dem Werk von zwölf Beiträgen anschaulich dargestellt. Jeder Beitrag geht in der einen oder anderen Form auf diese drei Werte ein. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt mit vier Beiträgen den „intellektuellen“ Bereich: Wie denken Christen über ihr Engagement und die Begegnung mit Andersdenkenden? Im zweiten Teil geht es in weiteren vier Beiträgen darum, wie Christen sich in einer zunehmenden säkularen und pluralistischen Gesellschaft in ein Gespräch einbringen. Im letzten Teil schreiben vier Mitwirkende über die Verkörperung dieses Engagements: Wie aktiv bringen sich Christen in die pluralistische Gesellschaft ein? Wo bauen Sie aktiv Brücken? Wo sind Christen „Caregiver“ (Bezugsperson, Helfer)?

Die zwölf Autoren dieses Werkes trafen sich in St. Louis, um über die Art dieses Buches zu sprechen. Schnell wurde klar, dass jeder einige Geschichten und Erzählungen hatte, welche die Absicht des Buches gut illustrierten (xx). So ist dieses Werk eine Sammlung von Geschichten. Diese Geschichten wurden von Theologen, Pastoren, Priestern, Professoren, Songwritern, Lehrern, Müttern und Vätern geschrieben. Sie wurden geschrieben für Christen, welche eine leicht zugängliche Form der Antwort auf die eingangs gestellte Frage suchen.

Das Buch ist so gegliedert, dass man nicht jeden Beitrag lesen muss, um der Botschaft folgen zu können. Man kann die Beiträge auch in beliebiger Reihenfolge lesen, da jeder für sich eine Geschichte erzählt, die dem Leser helfen soll, sein eigenes Umfeld einerseits besser zu verstehen und sich andererseits sinnvoll darin zu engagieren. Die Rollen und Perspektiven der Autoren sind jedoch von Kapitel zu Kapitel so unterschiedlich, dass es an vielen Stellen schwierig ist, dem roten Faden des Buches zu folgen. Außerdem erscheint die dreiteilige Struktur des Buches nicht sehr hilfreich, da die meisten Kapitel Gedanken (think), Sprache (speak) und Praxis (embody) vermischen.

Dieses Buch ist kein Leitfaden für unsere pluralistische Kultur. Es ist eine Sammlung von einem Dutzend Geschichten verschiedener Menschen darüber, wie sie mit den Herausforderungen von Wahrheit und Liebe in einer gespaltenen Welt umgegangen sind. Die Entscheidung, nur Geschichten zu erzählen, scheint mir die Anpassung an die eigene Situation zu erschweren. Hätten sich die Herausgeber für mehr Hintergrundmaterial und eine systematischere Gliederung der Gedanken entschieden, wäre das Buch einfacher und wahrscheinlich leichter zu übertragen gewesen.

Ungeachtet dessen behandelt das Buch ein wichtiges und oft vergessenes Thema. Im Zeitalter der Moderne und Postmoderne ist es der Kirche oft bewusst oder unbewusst nicht möglich, sich wirklich in die Gesellschaft einzubringen. Weltflucht ist für viele Kirchen fast schon eine Art christliche Tugend. Diese Abgrenzung vergrößert leider die Kluft zwischen dem Christentum und unserem säkularen, pluralistischen Westen. Die Herausgeber wünschen sich ein unverwaschenes Evangelium, das mitten in dieser Welt, in jedem Umfeld platziert und bekannt gemacht wird. Wer diesen Wunsch teilt, kann von diesem Werk profitieren.


Joshua Ganz, Pastor und Armeeseelsorger, Winterthur, Schweiz