Systematische Theologie

J. Winfried Lücke: Religion und Denken

J. Winfried Lücke: Religion und Denken. Die Epistemologie religiöser Überzeugungen im Spätwerk G.W.F. Hegels, Collegium Metaphysicum 31, Tübingen: Mohr Siebeck, 2023, geb., XVI+605 S., € 129,–, ISBN 978-3-16-162335-6


Die Philosophie Hegels ist zwar seit seinem Tod immer wieder als „überholt“ oder „erledigt“ bezeichnet worden und phasenweise war diese Beurteilung die Mehrheitsmeinung, aber es hat auch immer wieder Hegel-Renaissancen gegeben und es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass wir seit über zwanzig Jahren eine solche erleben. Hegel gehört offenbar zu denjenigen Philosophen, die man nicht einfach ignorieren kann – was natürlich nicht heißt, dass man ihm zustimmen muss. Dabei hat Hegels Denken von Anbeginn auch ein starkes Echo in der Theologie gefunden. Die Faszination, die sein Ansatz auf das theologische Denken ausübt, ist wohl vor allem darin begründet, dass er das Christentum zur vollendeten Religion erklärt und den Anspruch erhebt, die wesentlichen Gehalte des christlichen Glaubens in Wissen überführen zu können. Inwieweit er diesem Anspruch gerecht werden kann, ist eine Frage, die für die Theologie von erheblichem Interesse ist.

Es ist daher zu begrüßen, dass J. Winfried Lücke eine sehr gründliche Arbeit zur Epistemologie religiöser Überzeugungen im Spätwerk G. W. F. Hegels vorgelegt hat. Die Arbeit, die 2022 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen wurde, berücksichtigt vor allem Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Religion und zu den Gottesbeweisen. Die Vorlesungen wurden zu Lebzeiten Hegels nicht veröffentlicht, liegen aber in einem Manuskript von 1821 und Nachschriften von Studenten aus den Jahren 1824–1831 vor und sind inzwischen ediert worden. Lücke zieht darüber hinaus auch andere relevante Ausführungen aus dem Gesamtwerk Hegels heran, um ein umfassendes Gesamtbild zu zeichnen. Dabei setzt er sich nicht nur mit der einschlägigen Literatur zur Hegel-Interpretation auseinander, er bringt dessen Denken auch in Verbindung mit gegenwärtigen Diskussionen.

In Teil I seines Werkes (29–137) spannt er den Horizont der Ausgangsfragestellung auf, ob und unter welchen Bedingungen religiöse oder im engeren Sinne theistische Überzeugungen gerechtfertigt sein können. Dabei greift er den so genannten evidentialistischen Einwand auf, dass der Glaube an Gott nur gerechtfertigt sei, wenn er durch Argumente ausreichend gestützt werde. Als mögliche Antworten auf diesen Einwand stellt er die Ansätze von Friedrich Heinrich Jacobi, einem Zeitgenossen Hegels, und von Alvin Plantinga dar, einem der einflussreichsten aktuellen Religionsphilosophen. In beiden Fällen hält er allerdings Hegels Ansatz für erfolgversprechender.

Den Schwerpunkt der Arbeit bildet Teil II (139–400), der sich mit Hegels Interpretation der Gottesbeweise beschäftigt. Lücke stellt jeweils zunächst Kants Rekonstruktion und Ablehnung des kosmologischen, teleologischen und ontologischen Arguments dar, um dann Hegels Kritik an Kant und seine eigene Version der Gottesbeweise zu entfalten. Dabei legt Lücke nicht nur eine plausible Interpretation Hegels vor, er bedenkt auch mögliche Einwände und überlegt Antwortmöglichkeiten aus einem hegelschen Ansatz heraus. Die Ausführungen sind oft ausgesprochen erhellend, können hier aber natürlich nicht im Einzelnen referiert werden. Es muss hier genügen, den Grundgedanken zu skizzieren, der nach Lückes Verständnis in Hegels Ausführungen zu den Gottesbeweisen deutlich wird: Menschen verpflichten sich in ihren ganz natürlichen Erkenntnisprozessen immer schon implizit auf die Anerkennung der Existenz Gottes. Aufgabe der Gottesbeweise sei es lediglich, diese implizite Anerkennung explizit zu machen. Dabei verwendet Hegel die Worte „Gott“, „das Absolute“, „der absolute Geist“, „das Unendliche“, „der Begriff“, „die Idee“ als Synonyme. Der Kern etwa des kosmologischen Argumentes sei, dass jeder, der sich auf Endliches beziehe – und dies geschieht ja in allen mentalen Akten von Menschen – dies nicht tun könne, ohne sich implizit auf das Unendliche zu beziehen. Damit habe man sich auf die Anerkennung von dessen Existenz verpflichtet. In ähnlicher Weise knüpfe das ontologische Argument, das für Hegel die zentrale Stellung innehat, an ein natürliches Phänomen unserer Erkenntnisprozesse an: Jeder Mensch erhebe mit jedem Aussagesatz einen Wahrheitsanspruch. Wer Wahrheitsansprüche erhebe, der verpflichte sich damit auf die Anerkennung des absoluten Wahren, des absoluten Geistes. Wer dessen Existenz leugne, verwickle sich in einen Selbstwiderspruch, da er den Anspruch auf Wahrheit erhebe und gleichzeitig die Existenz der Wahrheit und deren Erkennbarkeit bestreite.

Diese Überlegungen sind zwar faszinierend, aber keineswegs zwingend. Pirmin Stekeler-Weithofer, ein renommierter Hegel-Interpret, zieht aus den gleichen Beobachtungen ganz andere Schlüsse: Für ihn ist Hegels „Gott“ nur eine personifizierte Ausdrucksweise für den Standpunkt der philosophischen Spekulation. Wir müssen zwar davon ausgehen, dass die Wirklichkeit im Prinzip erkennbar ist, aber wir können diesen Standpunkt nicht realiter einnehmen, von dem aus wir die Wirklichkeit vollständig und zutreffend erkennen könnten. „Gemeint ist nur: Wir können mit der Fiktion eines solchen Standpunktes sinnvoll operieren.“ (Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn: Schöningh, 1992, 422). Nun hat mich zwar die Lektüre des vorliegenden Werkes davon überzeugt, dass Hegel sich vermutlich von Lücke besser verstanden fühlen würde als von Stekeler-Weithofer. Dessen Ausführungen machen aber deutlich, dass es keineswegs zwingend ist, dass wir uns mit unseren ganz alltäglichen kognitiven Prozessen auf die Existenz Gottes verpflichten.

Der dritte und letzte Teil des Werkes (401–570) wendet sich Hegels Verständnis von Religion im engeren Sinne zu. Religion und Philosophie haben aus seiner Sicht denselben Gegenstand, nämlich das Absolute. Die Religion hat diesen Gegenstand in der Form der Vorstellung, die Philosophie im Denken, im Begriff. Lücke zeigt zwar, dass Hegel die Trennung von Vorstellen und Denken nicht vollständig durchführen kann, es bleibt aber bei einer klaren Überordnung der Philosophie: Sie hat (zumindest in ihrer vollendeten Gestalt) einen klaren Begriff des Absoluten, während die Religion dieses vor allem in metaphorischer Form beschreibt. Dennoch spielt Religion für Hegel eine wichtige Rolle in der Entwicklung des menschlichen Geistes. Wie oben dargestellt beziehen sich Menschen nach seiner Auffassung bereits in ihren elementaren kognitiven Akten implizit auf das Absolute. Dieser Bezug ist zunächst aber völlig unbewusst und die Religionen sind sozusagen ein Stadium in der Menschheitsentwicklung, in der das Absolute zumindest in bildhafter Form ins Bewusstsein tritt. Hegel sieht eine historische Aufwärtsentwicklung in den einzelnen Religionsformen, die schließlich im Christentum als der vollendeten Religion gipfelt. Allerdings hat auch das Christentum die Wahrheit nur in metaphorischer Form, die Aufgabe der hegelschen Philosophie ist es nun, diese Wahrheit auf den Begriff zu bringen. Lücke stellt zu Recht fest, dass die (Um-)Deutungen christlicher Glaubensinhalte, die in diesem Prozess geleistet werden, es für manche Interpreten zweifelhaft sein lassen, „ob sich Hegel, wenn er von Gott spricht, tatsächlich auf dasselbe bezieht wie christliche Gemeinschaften“ (499). Und wer Lückes Darstellung der hegelschen Interpretation der Selbstbeziehung des Absoluten in der Trinität, der Schöpfungsvorstellung und des Sündenfalls (445–449) liest, wird sich vermutlich in diesen Zweifeln bestätigt sehen. Lücke kann zwar Parallelen zwischen Hegels Gottesbegriff und manchen Äußerungen etwa eines Thomas von Aquin aufzeigen, er vertritt auch im Gegensatz zum Mainstream der Hegelforschung mit nachvollziehbaren Argumenten die These, dass Hegel das Absolute als Person verstanden hat. Aber diese „Person“ unterscheidet sich doch wesentlich von dem, was die meisten Christen meinen, wenn sie von Gott sprechen: Bei Hegel ist das Absolute kein Gegenüber, kein „Du“.

Die Arbeit Lückes bietet eine umfassende, exegetisch überzeugende Darstellung von Hegels reifer Erkenntnistheorie religiöser Überzeugungen. Es ist zu erwarten, dass dieses Buch ein wichtiges Referenzwerk zu diesem Thema wird.


Dr. Ralf-Thomas Klein, Lehrbeauftragter für Wissenschaftstheorie und Lateinische Quellentexte an der FTH Gießen