Historische Theologie

Karin Oehlmann: Glaube und Gegenwart

Karin Oehlmann: Glaube und Gegenwart. Die Entwicklung der kirchenpolitischen Netzwerke in Württemberg um 1968, AKIZ 62, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, geb., 461 S., € 90,−, ISBN 978-3-525-55777-8

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Man könnte fürchten, die 461 Seiten umfassende Arbeit von Karin Oehlmann über die Entwicklung kirchenpolitischer Netzwerke in der evangelischen Landeskirche in Württemberg würde eine zähe historische Darstellung sein. Sie liest sich aber spannend wie ein Kriminalroman. Es geht um die kirchenpolitischen und theologischen Auseinandersetzungen im Vorfeld und Nachgang zur Zeit der Studentenunruhen 1968. Es gelingt der Verfasserin, die vielschichtigen und komplexen Vorgänge in klaren historischen Fäden nachzuzeichnen und ein profiliertes Bild der damaligen Zeitgeschichte herauszuarbeiten. Die Studie wurde im Wintersemester 2014/15 von der philosophischen Fakultät der Universität Köln als Dissertation angenommen.

Als Rezensent möchte ich gleich zu Beginn einräumen, dass ich die in dem Buch genannten Akteure größtenteils persönlich gut kannte und auch in vielen der geschilderten Ereignisse als Zeitzeuge aktiv involviert war. Das macht für mich einerseits die Lektüre besonders spannend, andererseits bemühe ich mich desto mehr, objektiv die Darstellung von Frau Oehlmann zu lesen und fair zu würdigen.

Insgesamt bewegt sich Karin Oehlmann über ein Minenfeld, weil die Situation um 1968 höchst emotionalisiert war und viele Vorgänge bis heute umstritten sind. Desto mehr ist anzuerkennen, dass sie mit großer Akribie solide Quellenstudien betrieben hat, Interviews mit beteiligten Zeitzeugen führte und eine sachliche Aufarbeitung der geschichtlichen Abläufe präsentiert. Es ist ihr Verdienst, im Blick auf eine kirchengeschichtlich brisante Ära Widersprüche und Debatten aufzuzeigen, die zum großen Teil bis heute relevant sind. Gelegentlich merkt man an einzelnen Bemerkungen, wie z.B. wertenden Adjektiven etc., welche Position die Autorin selbst einnimmt. Aber sie wahrt durchgängig die nötige kritische Distanz zu den damals konstituierten Netzwerken. Diese sind bis heute größtenteils aktiv. Karin Oehlmanns Bemühen um Objektivität ist hoch anzuerkennen und macht die Arbeit zu einer verlässlichen Quelle für weitere geschichtliche Forschungen im Blick auf die umstrittene Zeit der 68er. Gerade weil die Phase um 1968, sowohl politisch als auch kirchengeschichtlich zu vielfältigen Kontroversen Anlass gab, lieferten die Auseinandersetzungen viel Stoff zur Mythenbildung. Insofern handelt es sich bei der Studie auch um ein gelungenes Projekt der Entmythologisierung neuerer Kirchengeschichte.

Die Studie ist übersichtlich gegliedert und folgt im Wesentlichen den historischen Abläufen, die allerdings in größeren Themenkomplexen zusammengefasst werden. Schwerpunkte sind vor allem die Entstehung landeskirchlicher Netzwerke seitens des Pietismus sowie der liberalen und politisch orientierten Gruppierungen in Württemberg. Besondere Beachtung findet die spezifische Situation vor den relevanten Synodalwahlen 1965 und 1971, die aufgrund des Urwahlprinzips in Württemberg immer eine besonders herausragende Bedeutung für die Wahrnehmung der kirchlichen Situation hatten. So erörtert Oehlmann die Vorgeschichte der Ludwig-Hofacker-Vereinigung im Zusammenhang der Evangelischen Lehrergemeinschaft in Württemberg und die Gründung der „Evangelisch-kirchlichen Arbeitsgemeinschaft für biblisches Christentum“. Weitere Themen sind die Geschichte der Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft in Württemberg von 1945 bis 1965 sowie die sogenannte „außersynodale Opposition“ in Gestalt der Offenen Kirche. Hinsichtlich der 7. Legislaturperiode der Württembergischen Landeskirche wird die strukturelle Ausdifferenzierung der Gruppen dargestellt, sowie die Anliegen der „kritischen Kirche“, die sich als Repräsentant des progressiven Protestes verstand.

In diese institutionellen Entwicklungen hineinverwoben sind die großen theologischen Auseinandersetzungen im Streit um das Konzept der Entmythologisierung bei Rudolf Bultmann sowie Fragen der Kirchenreform und Gesellschaftsdiakonie. Weitere Schwerpunkte bildet die Auseinandersetzung um die Theologinnenordnung im Blick auf die Einführung der Frauenordination. Sodann werden die umfangreichen Konflikte in der Vorbereitung und Durchführung des Kirchentages 1969 in Stuttgart geschildert. Dabei treten auch die Unterschiede zwischen der württembergischen Ludwig-Hofacker-Vereinigung sowie dem sogenannten „Fellbacher Kreis“ im Gegenüber zur Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ deutlich zutage. Kritische Themen sind weiterhin der Rücktritt des Synodalpräsidenten Oskar Klumpp, der Fall der Vikarin Regula Rothschuh, die Esslinger Vikarskonferenz und schließlich die inhaltlichen Schwerpunkte des Synodalwahlkampfes 1970/71.

Aus der umfangreichen Fülle des Stoffes seien hier exemplarisch noch einige Schwerpunkte in der Entwicklung benannt:

1. Die Bultmann-Krise und die Entstehung der Ludwig-Hofacker-Vereinigung: Angesichts des physischen und des moralischen Desasters, das das Dritte Reich auch in der Kirche angerichtet hatte, brachen alte theologische Konflikte im Landeskirchentag (der damaligen Landessynode) erneut auf. Seitens der schwäbischen Pietisten erwies sich die Evangelische Lehrergemeinschaft als eine wichtige Institution, die bereits seit 1835 aktiv war und die um 1890 ca. 600 Mitglieder umfasste. Sie diente zum einen „der evangelischen Zurüstung und Erbauung“ in der Lehrerschaft. Die Mitglieder übernahmen zum anderen die Aufgabe, den „christlichen Standpunkt mannhaft und charakterfest“ zu verteidigen.

1947 erschien der Vortrag des Marburger Neutestamentlers Rudolf Bultmann über die Entmythologisierung und die damit verbundene existentiale Interpretation des Neuen Testaments im Druck. Der Beitrag Bultmanns entfaltete erst in der Nachkriegszeit seine eigentliche Wirkung. Julius Beck, der 1946 die Evangelische Lehrergemeinschaft wieder neu gegründet hatte, griff in die Diskussion ein und kritisierte Bultmanns Programm als Auflösung der biblischen Heilsgeschichte. Der Essener Pfarrer Wilhelm Busch unterstrich in seiner Zeitschrift „Licht und Leben“ vehement diese Kritik. Da die Auseinandersetzung um Bultmann schon damals weite Gemeindekreise erfasste und von den Repräsentanten der württembergischen Gemeinschaftsverbände aufgegriffen wurde, sah sich der Oberkirchenrat in Stuttgart unter Leitung von Bischof Martin Haug genötigt, gegen die Position Bultmanns öffentlich Stellung zu beziehen. Damit entwickelte sich die hermeneutische Frage zum zentralen Thema des theologischen Streits. In diesem Zusammenhang war die von Beck und seinen Freunden gegründete „Evangelisch-kirchliche Arbeitsgemeinschaft für biblisches Christentum“ ein wichtiges Netzwerk, das seit den frühen 50er Jahren bis zur Gründung des Albrecht-Bengel-Hauses 1970 die Ausbildung von Theologiestudenten zu einem Kernanliegen des württembergischen Pietismus machte. Die evangelisch-theologische Fakultät in Tübingen überreichte am 11. März 1952 dem Landeskirchentag eine Denkschrift mit dem Titel „Für und wider die Theologie Bultmanns“.

2. Die Bedeutung der Landessynode und der Streit um den Stuttgarter Kirchentag 1969: Die theologische Debatte spiegelte sich 1965 in diversen Gesprächskreisen innerhalb der Landessynode wider. Zunächst ging es um die Vorbereitung eines kontroversen Kirchentages, der 1969 in Stuttgart unter dem Stichwort „Streit um Jesus“ stattgefunden hat. Die theologischen Kontroverspunkte verschränkten sich mit den Zielsetzungen der konkurrierenden Synodalgruppen, die im Laufe des Wahlkampfes 1970/71 an Profil gewannen.

Anlässlich der Verhandlungen um die Gestaltung des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Stuttgart positionierte sich einerseits der württembergische Pietismus – vertreten durch die Ludwig-Hofacker-Vereinigung in Verbindung mit dem Gnadauer Verband und der 1966 gegründeten Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ – im Gegenüber zu der gastgebenden Landeskirche und dem Kirchentagspräsidium. Dabei zeigte sich, dass zwischen den württembergischen Pietisten und der westfälischen Bekenntnisbewegung deutliche kirchenpolitische Unterschiede erkennbar wurden.

3. Fazit: Die historisch-wissenschaftliche Studie von Karin Oehlmann erweist, wie leidenschaftlich in den 50er und 60er Jahren um die Wahrheit des Evangeliums gerungen wurde. Der Kampf fand seinen Niederschlag in der Gründung von kirchenpolitischen Netzwerken, die bis heute die gesamtkirchliche Lage bestimmen. Allerdings – und dieser Unterschied ist unübersehbar – wird die Debatte angesichts der gegenwärtigen Sehnsucht nach Harmonie und der „postfaktischen Relativierungen“ der Wahrheitsfrage längst nicht mehr mit der Schärfe jener Jahre geführt. Diesen Hintergrund auszuleuchten und verständlich zu machen, ist ein wesentliches Verdienst der von Karin Oehlmann vorgelegten Studie.

 

Prof. Dr. Rolf Hille, Honorarprofessor an der Freien Theologischen Hochschule Gießen

 

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