Historische Theologie

Philipp Jakob Spener: Berliner Predigten 1693–1701

Philipp Jakob Spener: Berliner Predigten 16931701, Philipp Jakob Spener, Schriften, Bd. 10, Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 2015, geb., LXXXII+685 S., € 198,–, ISBN 978-3-487-14994-3

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Nach fast 30 Jahren ist die von Erich Beyreuther im Jahr 1979 begonnene Reihe mit Reprints von Schriften Speners mit dem vorliegenden Band zum Ende gekommen. Vom Jahr 2001 an hat Dietrich Blaufuß, der schon lange vorher intensiv an der Herausgabe beteiligt war, die Herausgeberschaft übernommen. Im vorliegenden Band gibt er einen ausführlichen Rückblick über die Genese des gesamten Werkes ( 665*–684*). In einer Zeit, in der es völlig offen stand, ob eine projektierte Edition von Werken Speners in absehbarer Zeit realisiert werden würde und gleichzeitig – anders als heute – der Zugriff auf seine gedruckten Werke nicht leicht war, sollte mit der Reprintausgabe eine gewisse Abhilfe geschaffen werden. Auch wenn damit kein kommentierter Text an die Hand gegeben wurde, konnten Ergebnisse der Spenerforschung in unterschiedlich ausführlicher Art in Einführungen bereitgestellt werden. Dass eine mehr oder weniger „reine“ Reprintausgabe heute in einer Zeit, in der nahezu alle wichtigen Texte aus der frühen Neuzeit als Digitalisate im Internet zur Verfügung stehen, ein gut Teil ihrer Bedeutung verlieren würde, konnte damals und noch viele Jahre danach niemand ahnen. Es ist aber dennoch gut, dass die gesamte Ausgabe, die auf 16 Bände (in 38 Teilbänden) projektiert war, mit dem vorliegenden Band den letzten noch ausstehenden, wenn auch nicht den letzten Band der Reihe, beendet hat. Damit ist zum ersten Mal eine Speneredition zum Abschluss gebracht. Dies allein ist der Erwähnung wert. Die Fortsetzung einer „Sonderreihe“, die derzeit u. a. einen Reprint der dreibändigen Spenerbiographie Paul Grünbergs enthält, wird – vorsichtig – angekündigt (8*, 666*).

Bevor die einzelnen Spenertexte, die in diesen Band aufgenommen sind, benannt und kurz dargestellt werden, sei insbesondere auf das Nachwort von D. Blaufuß verwiesen: „35 Jahre ‚Philipp Jakob Spener: Schriften‘ Band I bis XVI (1979−2014). Ein Rückblick“ (665*−685*). Darin werden nicht nur die jeweiligen Bände (mit Erscheinungsjahr) und die beteiligten Mitarbeiter in einer Liste übersichtlich dargestellt, sondern es wird vor allem die Genese der Reihe beschrieben und ins Verhältnis zu den anderen Spenereditionen gesetzt. Neben dieser Reprintausgabe handelt es sich dabei um die dreibändige und bislang nicht zu Ende gebrachte Ausgabe Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe (Bd. I/1, Gießen: Brunnen 1996; Bd. I/2, Gießen 2000; Bd. II, Gießen 2006) und um die Edition der Briefe Philipp Jakob Speners, die über viele Jahre als DFG-Projekt und seit 2011 als Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig vorangetrieben wird (inzwischen 10 Bände; Tübingen 1992−2017). Fragen, die in einer ganzen Reihe von Publikationen zur Edition von Spenertexten und zum Verhältnis der verschiedenen Projekte zueinander behandelt wurden, sind in diesem Nachwort kurz zusammengefasst und können hier nicht wiederholt werden. (Noch?) offene und wiederholt gestellte Fragen an die Spenerbriefedition werden wiederholt, betreffen jedoch nicht den hier zu rezensierenden Band. Auf notwendige Veränderungen im Aufbauplan des Editionsprojekts wird hingewiesen. Dabei geht es vor allem darum, dass die Idee, die Edition an den Hauptwirkungsorten Speners bzw. der „Entstehungs- und/oder Veröffentlichungszeit der Spener-Texte“ (676*) zu orientieren, nicht gelungen ist – und auch nicht gelingen konnte, was der Hg. anhand der Publizierung der „Briefe- und Bedenken-Sammlungen“ (676*) expliziert. „Pragmatische Lösungen“ (678*) mussten gefunden werden, die vor allem durch die Editionsform des Reprints nötig wurden.

Mir scheint angesichts des Vorteils einer umfangreichen, wenn auch längst nicht vollständigen Zusammenstellung von Spenerwerken ein „dogmatisch“ motiviertes Monitum an dieser Stelle nicht notwendig. Die „praktischen“ Gründe für diese Änderungen sind begründet und nachvollziehbar. Für den hier zu besprechenden Band ist diese mitten im Verlauf des Editionsprojekts geänderte Grobeinteilung (vom zeitlichen Ablauf hin zu einer Sachorientierung) jedoch von Bedeutung. Betrachtet man die stattliche Reihe von Bänden, die immerhin fast drei Regalböden füllen, dann nimmt sich der einzige (!) Band, der auf dem Rückentitel mit einem der Wirkungsorte Speners verbunden ist, nämlich Berlin, ziemlich mager aus. Für jemanden, der Speners Œuvre nicht kennt und nur einen oberflächlichen Blick auf die Ausgabe wagt, scheint es so, als habe seine Schaffenskraft deutlich nachgelassen. Dass die Wiedergeburtspredigten (Spener, Schriften, Bd. VII) ebenfalls aus der Berliner Zeit stammen, wird nicht explizit vermerkt, ebenso wenig eine Reihe von Streitschriften, die in diese Lebensphase Speners gehören (Spener, Bd. V und VI). So bleibt der Titel dieses Bandes eine Art Relikt an den zuerst angedachten Aufbau der Edition.

Über die aufgenommenen und weggelassenen Texte in einer Auswahlausgabe wird man immer streiten können. Aber man fragt sich doch, wieso die von Spener selbst als äußerst wichtig angesehene Schrift Evangelische Glaubensgerechtigkeit, 1684) nicht berücksichtigt wurde. Es handelt sich hierbei um das erste große umfangreiche Werk des damaligen Frankfurter Seniors, das ihm derart wichtig war, dass er über Monate hinweg nur die allernotwendigsten amtlichen Aufgaben durchführte, sich zum Schreiben aus seinem Wohnhaus zurückzog, um ungestört zu sein, und sogar bis aufs Allerdringlichste seine Korrespondenz beiseitelegte. Dieses Werk ist vermutlich der ausführlichste – deutschsprachige – Text zur lutherischen Rechtfertigungslehre im Zeitalter der Orthodoxie. Die über 1000 Seiten sollten für eine – in Aussicht gestellte – Erweiterung der Reprintedition aber kein Hindernis darstellen, zumal auch andere umfangreiche Werke aufgenommen wurden. Auch wenn der Text als Digitalisat im Internet greifbar ist, sollte der Forschung ein Druck noch zur Verfügung gestellt werden.

Der hier zu besprechende Band X enthält sieben Einzeltexte aus den Jahren 1693 bis 1697. Sie werden von vier Fachleuten eingeführt. Markus Matthias leitet die Predigt aus dem Jahr 1693 ein „Die Gründliche Erörterung / Was von dem [EXORCISMO zu halten seye / wie auch Krafft und Wirckung der Tauffe“ und stellt sie in den historischen Zusammenhang ihrer Entstehung (9*−18*). Die Thematik war ein konfessionelles Unterscheidungsmerkmal zwischen Reformierten und Lutheranern, das in einem Land, in dem die Herrschaft reformiert und der größte Teil der Bevöllkerung lutherisch war, von Bedeutung war. Spener hält sie für ein Adiaphoron und erweist sich – bei seiner ansonsten deutlichen lutherischen Einstellung – an dieser Stelle als irenisch. Gleichzeitig stellt er die grundlegenden „Wohlthaten“ Gottes, nämlich Rechtfertigung, Wiedergeburt und Erneuerung, in ein konstitutives Verhältnis zur Taufe. Es wird deutlich, dass sein Taufverständnis nicht von seiner Auffassung des ordo salutis zu trennen ist. Der zweite von M. Matthias eingeführte Text nimmt ein Thema auf, das für die Auseinandersetzung um den entstandenen Pietismus von großer Bedeutung ist: Die Möglichkeit, Grenzen und Gefahren „von gesichten / erscheinungen und dergleichen offenbahrungen“. Es geht um die Frage nach der Behauptung des Quedlinburger Goldschmieds Heinrich Kratzenstein, in Träumen göttliche Offenbarungen zu haben. Diese wurden in Zusammenhang mit dem Pietismus gebracht und von den Gegnern dazu verwendet, zu zeigen, wie gefährlich die neue Frömmigkeitsbewegung sei. Spener hatte ein Gutachten zu den Quedlinburger Ereignissen zu erstellen, das ohne seine Zustimmung publiziert worden war. Das – zusammen mit einer Predigt zum Thema – nun von Spener approbierte Gutachten ist im Band aufgenommen. Darin unterstreicht er noch einmal, was er schon andernorts festgestellt hatte: Im Gegensatz zu vielen seiner orthodoxen Kollegen konnte er die Möglichkeit besonderer Offenbarungen nach dem Abschluss des neutestamentlichen Kanons nicht völlig verneinen, aber er stellt einen genauen Kriterienkatalog auf, anhand dessen man versuchen könne, die Göttlichkeit einer solch außergewöhnlichen Erfahrung zu erkennen – oder vielleicht besser, festzustellen, unter welchen Bedingungen kein göttlicher Ursprung vorliegt. Kratzenstein hält Spener schlichtweg für krank.Andres Straßberger beschäftigt sich anhand einer im Band veröffentlichten Predigt mit Spener als Bußprediger. In einer dieser Predigten geht es auch um ein für die pietistischen Auseinandersetzung brisantes Thema, nämlich dem des sog. „Gnadenziels“. Im „terministischen Streit“ (1699−1710) wurde die Frage verhandelt, ob den Menschen schon vor ihrer Todesstunde ein Zeitpunkt von Gott gesetzt wird bis zu dem sie Buße tun könnten, bevor sie ihre Verstockung erleiden müssen. Auch hier lässt sich bei Spener ein Mittelweg in der Streitfrage erkennen. Einerseits hält er an der herkömmlichen Lehre fest, dass dem einzelnen Menschen keine bestimmte Gnadenfrist in diesem Leben gesetzt ist. Andererseits weist in der Predigt anhand eines gerade in Berlin geschehenen Unglücks darauf hin, dass es ein „Zu spät“ geben kann und nicht jeder mit seiner Buße bis zum Totenbette warten könne. Die zweite von Straßberger eingeleitete Predigt beschäftigt sich mit den Strafgerichten Gottes in dieser Zeit. Sie kann als Beispiel für die notwendige komplementäre Ergänzung zu seiner „Hoffnung auf künftig bessere Zeiten der Kirche“ gelesen werden. Diese Hoffnung ist immer wieder – und in manchen Zeiten, in denen Spener das „Verderben der Kirche“ in besonderer Weise empfindet – verbunden mit Strafgerichten, die Gott selbst über die wahre Kirche, nämlich die lutherische Kirche, in der das Evangelium rein bekannt (wenn auch nicht immer gelehrt) wird, verhängt. Wie das alttestamentliche Jerusalem („zu Jeremias Zeiten“, wie Spener gelegentlich sagt) erst von der widergöttlichen babylonischen Macht zerstört werden musste, bevor es wieder aufgebaut werden konnte, fängt Gott sein Gericht an seinem eigenen Haus, seiner Gemeinde, an, um sie zu reinigen, bevor eine neue Gnadenzeit beginnen kann. In der vorliegenden Predigt gibt Spener Hinweise, wie man sich auf diese Zeit vorbereiten kann. Alexander Bitzel beschäftigt sich mit einer Predigt, die ein weiteres wichtiges Thema der Berliner Wirksamkeit Speners behandelt: Die Frage nach dem Beichtwesen in der evangelischen Kirche. Johann Caspar Schade, ein junger Kollege Speners, der schon an den pietistischen Unruhen in Leipzig (1689/90) beteiligt gewesen war, tat sich zunehmend schwer mit der „Beichte am Fließband“, d. h. einer damals in der evangelischen Kirche noch üblichen Einzelbeichte, die es nicht ermöglichte, den seelsorglichen Auftrag an den Beichtkindern wahrzunehmen, und gleichzeitig den Beichtvater in schwere Gewissensnöte bringen konnte, weil von ihm erwartet wurde, jedem Beichtkind die Absolution zu erteilen. Auch hier nimmt Spener ein Thema auf, das ihn schon lange vorher beschäftigt hatte. Einerseits war für ihn die Ohrenbeichte eine sehr gute Möglichkeit, die Gemeindeglieder besser kennenlernen und geistlich begleiten zu können, andererseits verhinderte die Arbeitsbelastung und die zu geringe Zahl an Geistlichen eben dieses Vorhaben. Spener konnte seine skrupulösen Amtskollegen verstehen, nahm aber auch hier eine vermittelnde Position ein. Die wahre Buße verbindet er mit der Verkündigung des Evangeliums und seiner verheißungsorientierten Qualität. Damit nimmt er den Geistlichen aus der „Schusslinie“. Andererseits wird die Wirklichkeit wahrer Buße und Bußfertigkeit an den Änderungswillen des Bußklienten und an dessen konkreten Verhalten im Leben gebunden. Damit sind beide Pole genannt, die es verhindern, dass Glaube und Buße nicht eine menschliche Tat und Anstrengung sind. Sie sind gebunden an die geistgewirkte Verkündigung und die verändernde Kraft des Evangeliums. Gleichzeitig wird der nur „eingebildete Glaube“, der keine Frucht im Leben bewirkt, zurückgewiesen. Zum Schluss sei auf die letzte in diesen Band aufgenommene Predigt hingewiesen („Die christliche Verpflegung der Armen“). Sie wird von Peter Schicketanz eingeleitet. Diese Predigt ist eine Vorbereitung auf den Aufbau eines organisierten Armenwesens in Berlin. Dazu gibt Spener freilich nicht erst den Anstoß, sondern sie stand schon auf der Agenda des Kurfürsten, als Spener in die Mark Brandenburg wechselte. Dieser Umstand wird von Schicketanz jedoch nicht ausreichend herausgearbeitet. Mit Spener hatte der Landesherr aber einen Gewährsmann, der auf Erfahrungen dieser Art in Frankfurt zurückgreifen und gleichzeitig die nötige theologische Argumentation liefern konnte. Die Veröffentlichung der Predigt im Jahr 1697 ermöglichte zudem noch einen Anhang aus der Feder August Hermanns, der seine Erfahrungen aus dem einige Jahre vorher begonnenen sozialen Werk in Halle mitteilen konnte.

Die vorgelegten Texte repräsentieren also nur einen sehr schmalen Teil von Speners Berliner Predigttätigkeit. Aber sie greifen Themen auf, die für die Beurteilung des Pietismus und Speners Denken überhaupt von größter Bedeutung sind. Sie sind in bestimmte Gesprächszusammenhänge seiner letzten Wirkperiode eingebunden, können aber nur so, nicht aber in ihrer grundsätzlichen Thematik als Spezifika ausschließlich für die Berliner Zeit wahrgenommen werden. Insofern runden sie das Bild zu Spener ab.

Zum Schluss noch ein Hinweis auf die Gestaltung des Bandes: Die Herstellung eines Reprints von alten Drucken ist gewiss eine besondere Herausforderung, dürfen die Vorlagen doch nicht beschädigt werden. Dennoch ist es ein Manko eines so kostspieligen Bandes, wenn das Zeilenende auf manchen Seiten nicht vollständig wiedergegeben ist. Die im Internet zur Verfügung stehenden Texte zeigen reichlich, dass es heute Reproduktionsverfahren (und entsprechende Kopierer) gibt, die auch in den Falz eines Buches reichen und solche Mängel hätten verhindern können. Hier hätte man von Verlag und Herstellung mehr Sorgfalt erwarten können.

 

Dr. Klaus vom Orde, Arbeitsstellenleiter Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Forschungsstelle Edition Spenerbriefe in den Franckeschen Stiftungen, Halle

 

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