Praktische Theologie

Tobias Lehmann: Evangelikal orientierte Schulen

Tobias Lehmann: Evangelikal orientierte Schulen – geschlossene Systeme oder exemplarische Bildungsräume? Theologische Hintergründe, bildungstheoretische Reflexionen und schulpädagogische Perspektiven, Schulen in evangelischer Trägerschaft 19, Münster: Waxmann, 2015, 440 S., € 39,90, ISBN 978-3-8309-3325-0

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Tobias Lehmann will in seiner Dissertation das Proprium evangelikal orientierter evangelischer Schulen in Deutschland erheben und untersuchen, wie dieses Proprium sich theologisch und pädagogisch niederschlägt. Zu diesem Zweck stellt er nach einem einleitenden Kapitel (11–24) die evangelikale Bewegung in Deutschland dar (25–81). Die Wurzeln dieser Bewegung sieht er im Pietismus, der Erweckungsbewegung des 19. Jhs. und Einflüssen aus Nordamerika. Er betont einerseits die Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen evangelikalen Gruppen, die sich in der Zusammenarbeit in der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) ausdrückt, andererseits sieht er auch Spannungen zwischen einer konservativen Strömung, die die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift vertritt, und einer offeneren pietistischen Richtung. Lehmann expliziert nirgends seine eigene theologische Position. Zahlreiche wertende Bemerkungen machen aber deutlich, dass er den konservativen Evangelikalismus sehr kritisch sieht, während er der pietistischen Richtung wohlwollend gegenübersteht.

In den folgenden Kapiteln bedenkt Lehmann den bildungspolitischen (82–136), bildungstheoretischen (137–222) und schulpädagogischen (223–286) Hintergrund jeweils aus theologischer Perspektive. Bildung in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen bedürfe eines schulischen Trägerpluralismus. Evangelische Schulen erhielten ihre Legitimation durch ihr besonderes Schulprofil. Evangelikale Schulen betonten in diesem Zusammenhang besonders die Rolle der Lehrpersonen (an die die Anforderung gestellt werde, dass sie das Schulprofil authentisch mittragen und mitgestalten können) und einer gelebten praxis pietatis. Als paradigmatisch für den Umgang mit dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft im Unterricht betrachtet er die Schöpfungs- und Evolutionsthematik. Er kritisiert die Behandlung des Kreationismus als ernstzunehmende Position und weist auf die offizielle Haltung der DEA hin, die im „Themenbuch zur Systematischen Theologie“ des AfeT zum Ausdruck komme. Hier sei der Beitrag von Reinhard Junker zum Kreationismus lediglich ein Exkurs, während der Hauptbeitrag von Hermann Hafner deutlich mache, dass Gotteserkenntnis aus Glauben und wissenschaftliche Welterkenntnis zwei unterschiedliche Wirklichkeitsperspektiven seien.

Das sechste Kapitel (287–320) gibt einen kurzen Überblick über die evangelikale Schulbewegung in Deutschland. Nach der Gründung der Freien Evangelischen Schule in Reutlingen 1973 habe es in den 1980er Jahren eine Welle von Schulgründungen gegeben. Für das Schuljahr 2013/14 zählt er 53 Schulen mit mindestens einem Sekundarbereich, in denen 32.618 Schülerinnen und Schüler unterrichtet wurden. Als Bekenntnisgrundlage werde an den Schulen häufig die Glaubensbasis der DEA genannt.

Die Präsentation des eigentlichen Forschungsvorhabens erfolgt im siebten Kapitel (321–394), das sicherlich der aufschlussreichste Abschnitt des Buches ist. Lehmann hat eine Befragung der Schulleitungen evangelikaler Schulen durchgeführt, an der sich immerhin 50 der 53 angefragten Schulen beteiligten. Einige Ergebnisse der Befragung sollen kurz skizziert werden. Nach Einschätzung der Schulleitungen stammen etwa 40% der Schülerschaft aus Familien, die nicht nur Mitglied einer Kirche sind, sondern auch regelmäßig am Gottesdienst und gemeindlichen Leben partizipieren. Von den 1.429 Lehrkräften des Sekundarbereiches gehörten 52,8% einer evangelischen Freikirche an, während 29,4% in der evangelischen Landeskirche und 8,9% in evangelisch-landeskirchlichen Gemeinschaftsverbänden beheimatet waren. Auf einer Skala von 1 bis 5 stimmten alle Schulleitungen der Aussage „Die Bibel ist das Zeugnis des offenbarten Handelns Gottes in der Geschichte“ mit dem Wert 4 oder 5 zu, während die Aussage „Die Bibel ist das widerspruchsfreie Wort Gottes“ von 58,5% diesen Zustimmungswert erhielt. Dem Satz „Der biblische Schöpfungsbericht bietet ein plausibles naturwissenschaftliches Alternativmodell zur Evolutionstheorie“ stimmten nur 36,5% mit dem Wert 4 oder 5 zu. In der Frage „Worin sehen Sie das entscheidende Profil der Schule?“ herrschte große Übereinstimmung darin, dass die Schule durch gläubige Lehrkräfte gestaltet wird und dass der Glaube nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt wird. Die größten Standardabweichungen gab es bei den Items „Eine Schule, in der sich die Unterrichtsinhalte am Deutungsrahmen der Bibel orientieren“ und „Eine Schule, die sich durch ein reformpädagogisches Konzept auszeichnet“. Hier wird deutlich, dass die Sichtweisen auseinandergehen. Auf die Frage „Wie stark hat sich ihre Schule in ihrem christlichen Profil im Vergleich zu den Gründungsjahren verändert?“ antworteten 45,9% mit „gar nicht“ (Werte 1 und 2), 29,7% mit „sehr stark“ (Werte 4 und 5). Die Veränderungen werden „sehr oft auf eine Öffnung in personeller, theologischer, ethischer und gesellschaftlicher Perspektive gegenüber einer früher stärker vorherrschenden Enge und Abgrenzung zurückgeführt“ (371).

Lehmann findet in der evangelikalen Schullandschaft die Spannungen wieder, die er schon im zweiten Kapitel in der evangelikalen Bewegung insgesamt diagnostiziert hat. Er sieht ein evangelikal-konservatives Paradigma und ein evangelikal-offenes Paradigma, wobei seine Untersuchung nahelegt, dass sich der Schwerpunkt in Richtung auf letzteres verschiebt. Im Resümee kommt er zu dem Ergebnis, dass die Untersuchung zeige, „dass es für die Schule weichenstellend und richtungsweisend ist, ob das Ziel von Bildung und Schule vorrangig in einem geschlossenen bibelorientierten Weltverständnis oder in einer offenen menschenorientierten Weltverantwortung gesehen wird. An dieser Stelle scheint sich zu entscheiden, ob evangelikal orientierte Schulen eher als geschlossene Systeme oder aber als exemplarische Bildungsräume in den Blick kommen“ (410). Evangelikal-konservative Schulen werden sich vermutlich in der Beschreibung als geschlossene Systeme nicht wiederfinden und auch für sich als Erziehungsziel eine offene menschenorientierte Weltverantwortung angeben. Lehmanns Bewertung ergibt sich aber folgerichtig aus seiner Grundhaltung gegenüber den Strömungen innerhalb des Evangelikalismus.

Neben dem m. E. nicht ganz ausgewogenen Verhältnis zwischen der Präsentation der eigentlichen Forschungsergebnisse und den sehr umfangreichen theoretischen Vorüberlegungen, ist die geringe Schriftgröße des Druckes zu bedauern, die die Lektüre ausgesprochen mühsam macht. Die Arbeit hat aber dessen ungeachtet ihre Bedeutung als erstes umfassendes Forschungsvorhaben zu evangelikalen Schulen in Deutschland.

 

Dr. Ralph-Thomas Klein, Gymnasiallehrer AHF Gießen sowie Lehrbeauftragter Freie Theologische Hochschule Gießen

 

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