Praktische Theologie

Heinrich Derksen: Das Gottesdienstverständnis der russlanddeutschen Freikirchen

Heinrich Derksen: Das Gottesdienstverständnis der russlanddeutschen Freikirchen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2016, 361 S., € 48,–, ISBN 978-3-374-04558-7

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In seiner 2015 an der Freien Universität Amsterdam verteidigten Dissertation hat Heinrich Derksen, langjähriger Leiter des Bibelseminars Bonn, das Gottesdienstverständnis der freikirchlichen russlanddeutschen Gemeinden in Deutschland untersucht und dabei umfangreich die neueste Literatur zu den russlanddeutschen Migranten, ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Theologie berücksichtigt. Es ist verdienstvoll, dass die Evangelische Verlagsanstalt, die sich seit längerem um die Praktische Theologie verdient macht, diese Monographie zeitnah publiziert hat. Denn die Bedeutung der freikirchlichen russlanddeutschen Gemeinden für den deutschen Protestantismus ist bisher in der Forschung noch nicht ausreichend berücksichtigt. Mit rund 300.000 Mitgliedern ist die Gruppe der mennonitisch-baptistischen Russlanddeutschen nicht nur genauso groß wie alle anderen evangelischen Freikirchen zusammen, sondern die Zahlen ihrer Gottesdienstteilnehmer sind die größten aller evangelischen Kirchen und Gemeinden.

In Teil 1 (17–50) führt Derksen in Thema, Forschungsstand, Begrifflichkeit und Methodik seines Untersuchungsgegenstandes ein, wobei er seinen qualitativen Forschungsansatz im Einzelnen begründet. Teil 2 (51–209) stellt ausführlich die Phänomenologie russlanddeutscher Gottesdienste vor dem Hintergrund ihrer Entstehung und der Geschichte der Russlanddeutschen dar. Teil 3 (210–264) analysiert russlanddeutsche Gottesdienstverständnisse unter Berücksichtigung theologischer, traditionell-kultureller, psychologischer und soziologischer Faktoren. Teil 4 (265–308), schließlich, ordnet die typischen Merkmale russlanddeutscher Gottesdienstpraxis vergleichend in den Kontext des Gottesdienstverständnisses anderer Kirchen in Deutschland ein und zeichnet die unterschiedlichen Grade von Segregation und Assimilation im Integrationsprozess russlanddeutscher Gemeinden nach. Deutlich wird dabei das zunehmend weite Spektrum gottesdienstlicher Ausprägung von nach wie vor ausgesprochen traditionellen Gemeinden bis hin zu solchen, die einen zeitgenössischen Gottesdienststil pflegen, wobei alle Gemeindetypen nach wie vor erstaunlich stark frequentierte Gottesdienste aufweisen. Teil 5 (309–316) des Buches zieht ein Resümee und zeichnet Perspektiven auf, bevor englische und niederländische Zusammenfassungen der Ergebnisse sowie eine umfangreiche Bibliographie das Werk abschließen.

Inzwischen ist die Geschichte der Russlanddeutschen in Russland in erfreulichem Umfang erforscht, weit weniger dagegen Geschichte und (religiöses) Leben der Russlanddeutschen in Deutschland. Insgesamt schreitet aber die Migrations- und Inkulturationsforschung fort und hat erste Einzelstudien zu Religion und Kultur russlanddeutscher Christen hervorgebracht, die Derksen aufgreift. Migranten bringen nicht nur allgemeine Gewohnheiten und Fertigkeiten mit, sondern auch ihre Religion. Dass dies hinsichtlich muslimischer Zuwanderer so ist, wird inzwischen öffentlich und angesichts des Islamismus nicht ohne Sorge wahrgenommen. Dass die Religiosität Russlanddeutscher ein zunehmend belebendes Element für das christliche Deutschland werden kann, lohnt sich zu beachten.

Derksens Untersuchung behandelt ein zentrales Element russlanddeutscher christlicher Identität: die Gottesdienste. Mit ihrer oft traditionellen Ordnung, ihrem stark entwickelten Element des Allgemeinen Priestertums in Form zahlreicher, auch junger Laienprediger (dem allerdings eine – bei Derksen unterbetonte – Tendenz zu nicht selten autoritär leitenden Ältesten gegenübersteht: vgl. 195, 240, 255, 285), dem ausgeprägten Wortgottesdienst-Charakter mit zwei, teils drei Predigten pro Gottesdienst samt Antwort der Gemeinde in Einzel- und Gemeinschaftsgebeten und einer bemerkenswerten Musikkultur mit Jugend- und Erwachsenenchören, Instrumentalisten, kleinen Orchestern und dem Gemeindegesang, der vorwiegend aus dem Liedgut der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts schöpft, haben die Gottesdienste ein eigenständiges Profil. Wie Derksen zeigt, sind darin in einem fünf Jahrhunderte dauernden Prozess reformatorische, täuferische, pietistische, orthodoxe und russisch-stundistische Elemente rezipiert und sowohl die Lebenswelt des Kolonisationsmennonitentums als auch die leidvollen Erfahrungen von Repression unter dem Kommunismus haben ihre Spuren hinterlassen. Derksen arbeitet die Unterschiede zwischen den segregiert-exklusivistischen, den konservativ-integrativen und den progressiv-assimilierten Spätaussiedlergemeinden heraus und sieht eine Chance, dass sie (bei gelungener eigener Inkulturation) eine wichtige Rolle beim Erreichen und der Hilfe zur Integration von verschiedenen Migrantengruppen spielen könnten.

Diese Amsterdamer Dissertation weist die für die niederländische Praktische Theologie typische Methodentransparenz und Sorgfalt in der Durchführung empirisch-qualitativer Forschungsmethoden auf und verbindet sie zugleich mit theologischen Reflexionen. Für jeden, der eine anregende Einführung in Herkunft und Gemeindepraxis der russlanddeutschen Freikirchen sucht, bietet dieses Buch informative Lektüre.

 

Prof. Dr. Helge Stadelmann, Freie Theologische Hochschule Gießen

 

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