Armin Wunderli: Äußere oder innere Offenbarung?
Armin Wunderli: Äußere oder innere Offenbarung? Eine qualitative Untersuchung zur Wahl der Erziehungsziele kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Frankfurt u. a.: P. Lang, 2016, 351 S., € 59,95, ISBN 978-3-631-67580-9
Armin Wunderli (AW) wurde 2016 an der STH Basel mit vorliegender Arbeit promoviert. In seiner Untersuchung aus dem Feld der Gemeindepädagogik stellt er sich einer mehrfach interessanten Fragestellung. Mit dem Titel „Äußere oder innere Offenbarung“ bzw. der Unterscheidung von Bekehrungs- und Anlagemodell ist nicht nur eine zentrale anthropologische, sondern auch eine hermeneutische Fragestellung angesprochen, die sowohl in der Theologie als auch in der Pädagogik von immenser Bedeutung ist. Mit einer Untersuchung zur Wahl der Erziehungsziele ist ein grundlegendes Thema jeder Pädagogik angepackt, dessen Bedeutung für die pädagogische Arbeit in der Gemeinde nicht zu unterschätzen ist, das aber gleichzeitig selten explizit bedacht wird. Durch die Verknüpfung literarischer Grundlagen mit empirischen Daten aus der Befragung von Mitarbeitenden in der Gemeindearbeit kann eine fruchtbare Beziehung zwischen Theorie und Praxis hergestellt werden. Ausgangspunkt der Arbeit von AW ist die Beobachtung, dass in Gemeinden viele Ressourcen in die Kinderarbeit investiert werden. Daraus ergibt sich die Frage: Was ist das Ziel dieses Einsatzes? Durch qualitative Interviews mit den in dieser Arbeit Tätigen sollen diese Ziele erhoben und die Frage bedacht werden, wer die Ziele vor allem bestimmt: die eigene Biographie, die Interessen der Gemeinde oder auch Vorgaben aus der wissenschaftlichen Literatur.
In den einleitenden Teilen gelingt es AW, wichtige Grundfragen zu klären. Die von Englert übernommene anthropologische Unterscheidung von Anlagemodell (der Mensch entfaltet das, was in ihm angelegt ist, auch seine Beziehung zu Gott) und Bekehrungsmodell (der Mensch bedarf der Umkehr zu Gott und dazu der Offenbarung von außen) ist hilfreich. Begriffe aus dem (gemeinde-)pädagogischen Diskurs (Subjektorientierung, Außen-/Innenorientierung, Katechetik vs. Religionspädagogik usw.) werden schlüssig auf eines der beiden Modelle bezogen. Dabei macht er deutlich, dass man nicht von einer linearen Entwicklung vom Bekehrungs- zum Anlagemodell sprechen kann, sondern beide Modelle wegen der in ihnen impliziten hermeneutischen und weltanschaulichen Grundentscheidungen immer wieder im Widerstreit miteinander stehen. Die vor allem im katholischen Kontext beheimatete und als Kompromissmodell vorgeschlagene Korrelationsdidaktik hat sich dabei in Richtung des Anlagemodells orientiert und ist deshalb keine vermittelnde Alternative. In diesem spannenden Pluralismus der Modelle vertritt AW als eigenen evangelikalen Standpunkt das Bekehrungsmodell, stellt aber gleichzeitig fair und wertschätzend andere Positionen dar und setzt sich selbstkritisch mit Gefahren und Defiziten des eigenen Ansatzes auseinander (z. B. soteriologische Defizite, die zur Gefahr der Manipulation führen können).
Allerdings überrascht, dass er evangelikale Gemeindepädagogik als auf Kinder und Teenager begrenzt verstehen will. Mit diesem engen Pädagogikbegriff beruft er sich auf Mauerhofer. Dieser präferiert zwar dieses enge, auf Heranwachsende begrenzte Verständnis von Pädagogik, jedoch benennt er in seiner Definition der Gemeindepädagogik auch deren umfassenden pädagogischen Auftrag („Wahrnehmung des von Jesus gegebenen Erziehungs- und Lehrauftrags“) und nennt als Zielgruppen neben den Heranwachsenden u. a. deren Eltern, junge Erwachsene, Mitarbeiter, Lehrer sowie die Erwachsenenbildung als pädagogisches Aufgabenfeld. Dieses im praktischen Vollzug weite Verständnis von Pädagogik, das pädagogisches Handeln unabhängig von der Altersgruppe in den Blick nimmt, wird auch von anderen evangelikalen Autoren vertreten. Von daher kann ein enges, auf Heranwachsende begrenztes Verständnis nicht als Signum evangelikaler Gemeindepädagogik bezeichnet werden, auch wenn es legitim ist, dass AW seine Forschungsarbeit auf Kinder und Teenager begrenzt.
Im Anschluss an die Definition von Brezinka entscheidet sich AW für die Präferenz des Begriffs „Erziehungsziele“ (inhaltlich bestimmte Überzeugungen, die die Mitarbeiter entsprechend der Normen der Gemeinde vermitteln wollen und sollen) gegenüber dem der „Bildungsziele“ (wobei Bildung als Selbstbildung verstanden wird) und der „Kompetenzen“ (auf einzelne, inhaltlich eher unbestimmte, Kenntnisse und Fähigkeiten bezogen). Auch wenn dies eine Entscheidung gegen den Mainstream in den gemeindepädagogischen Veröffentlichungen darstellt, ist diese Entscheidung von der Sache her berechtigt und wird überzeugend begründet. Damit wird die Basis gelegt für die wichtige und verdienstvolle Untersuchung von Erziehungszielen in der gemeindepädagogischen Literatur und den Arbeitsmaterialien sowie der Zuordnung dieser Ziele zu den unterschiedlichen Modellen. Hier werden Zielformulierungen aus der katholischen, evangelisch-landeskirchlichen und evangelisch-freikirchlichen Literatur untersucht und anhand der dargestellten Modelle reflektiert. Dies ist eine hilfreiche Grundlage für das von ihm angestoßene Nachdenken und die Befragung von Gemeindemitarbeitern über die Ziele der Arbeit mit Kindern. Denn die Auswertung der qualitativen Interviews ergibt, dass ein entsprechender Diskurs in den Gemeinden noch kaum stattfindet.
Wunderli analysiert in diesem Zusammenhang auch das zum Leitbegriff der Praktischen Theologie erhobene Konzept der „Kommunikation des Evangeliums“, das von vielen für die Gemeindepädagogik übernommen wird. Die darin impliziten Entscheidungen werden in ihrer Bedeutung für Aspekte der Forschungsfrage deutlich gemacht. Ob allerdings der Versuch, den Begriff „Kommunikation des Evangeliums“ für eine evangelikale Gemeindearbeit zu retten, hilfreich ist oder die damit intendierte Reflexions- und Gesprächskultur besser ohne die begriffliche Äquivokation erreichbar und begründbar ist, muss gefragt werden.
Als zwei zentrale Leitthemen seiner Interviews nennt AW die Frage nach dem „Christ werden“, also die Bekehrung, und die nach der Integration in die Gemeinde. In der Auswertung der Antworten zur ersten Frage gelingt es ihm, den engen Zusammenhang zwischen dieser Frage und der hermeneutischen Sicht zur Bibel aufzuzeigen, die wiederum mit dem anthropologischen Ansatz von Bekehrungs- oder Anlagemodell korrespondiert. Über die Bedeutung der Integration in die Gemeinde ergaben sich bei den Gesprächspartnern keine signifikanten Unterschiede, da deren Bedeutung von allen bejaht wurde, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Darüber hinaus fällt auf, dass die Frage nach dem „Christ bleiben“, also nach dem Wachstum im Glauben nach der Bekehrung nicht direkt thematisiert wird. Dieses kann jedoch nicht automatisch unterstellt oder unter dem Thema Integration in die Gemeinde subsumiert werden. Auch der unscharfe Begriff der „christlichen Bildung“ kann den eindeutigeren Auftrag der „Umgestaltung in das Bild Christi“ nicht ersetzen. Dementsprechend benennt der Autor in seinem Fazit zu den Gesprächen genau diesen Punkt als mögliches Defizit bei den Mitarbeitenden in der Gemeinde, so dass es lohnend wäre, diese Fragestellung in einer weiteren Forschungsarbeit mit aufzunehmen. Deutlich wurde auch, dass für die Mitarbeitenden eigene biographische Aspekte für die Wahl ihrer Ziele eine viel größere Rolle spielen als Ziele aus der Literatur, der Gemeinde oder der Eltern. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass eine Gemeinde stärker in die Vermittlung der Ziele an die Mitarbeitenden investieren muss, wenn sie ihre Ziele an die nächste Generation weitergeben will.
Wunderli weist darauf hin, dass er die Arbeit aus freikirchlicher Sicht geschrieben hat. Trotzdem ist positiv zu vermerken, dass er den Blick nicht darauf eingeengt hat, sondern immer wieder auch katholische und evangelisch-landeskirchliche Aspekte berücksichtigt. Zudem betreffen die von ihm angesprochenen hermeneutisch-theologischen wie pädagogisch-anthropologischen Grundfragen ohnehin alle Konfessionen. Allerdings ist zu fragen, ob er bei der Darstellung der freikirchlichen Sicht doch sehr stark eine bestimmte Auswahl von Gemeinden in der Umgebung von Wien vor Augen hatte, die die Vielfalt von Auffassungen auch im freikirchlichen Kontext nur unzureichend widerspiegelt. So scheint freikirchlich an manchen Stellen fast zum Synonym für evangelikal zu werden, obwohl – wie er selbst einräumt – sich die Hälfte der Evangelikalen landeskirchlich verorten und er deshalb auch selbst an einem weiten Begriff von evangelikal festhalten will. Umgekehrt ist zu fragen, ob nicht auch in freikirchlichen Kreisen zunehmend Ansichten vertreten werden, die anthropologisch und hermeneutisch dem Anlagemodell zuzurechnen sind.
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist spannend und gemeindepädagogisch für die Arbeit mit allen Altersgruppen höchst relevant, so dass zu wünschen ist, dass die Ergebnisse in den Gemeinden reflektiert und der Forschungsansatz in weiteren Untersuchungen fortgeführt wird.
Prof. Dr. Markus Printz, Professor für Praktische Theologie und Gemeindepädagogik an der Internationalen Hochschule Liebenzell
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