Altes Testament

Carsten Ziegert: Diaspora als Wüstenzeit

Carsten Ziegert: Diaspora als Wüstenzeit. Übersetzungswissenschaftliche und theologische Aspekte des griechischen Numeribuches, Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 480, Berlin: de Gruyter, 2015, geb., VIII+340 S., € 109,95, ISBN 978-3-11-042502-4

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In diesem Buch wird das griechische Numeribuch mit der übersetzungs­wissenschaftlichen Skopostheorie auf seine Charakteristik als übersetzter Text, seinen „Sitz im Leben“ und seine mögliche Theologie untersucht. Es handelt sich dabei um eine Dissertation, mit der Carsten Ziegert 2014 an der Martin-Luther-Universität Wittenberg-Halle promoviert wurde.

Bei der Skopostheorie ist der Zweck der Übersetzung im Blick, d. h. welches Informationsangebot durch die Übersetzung eines Textes gemacht werden soll. Bei einer bereits vorliegenden Übersetzung kann der Zweck natürlich nur retrospektiv durch Rückschlüsse ermittelt werden. Ziegert belegt aber mit seinem Buch, dass dies möglich ist. Weitere Komponenten der Skopostheorie, die davon aber auch unabhängig gebraucht werden können, sind Texttyp und Äquivalenz.

Drei Texttypen werden unterschieden: der informative Texttyp, der Inhalte vermittelt, des Weiteren der expressive Texttyp, der eine künstlerische Aussage macht, und schließlich der operative Texttyp, der Verhaltensimpulse auslösen will. Dabei muss beachtet werden, dass einzelne Texte nicht nur streng einem einzigen Texttyp zugeordnet werden können, sondern informative, expressive und operative Elemente beinhalten können.

In Bezug auf Äquivalenz werden vier Ebenen unterschieden. Bei der Formäquivalenz geht es darum, dass jedes einzelne Wort des Ausgangstextes eine Entsprechung in der Zielsprache hat. Strukturäquivalenz bedeutet, dass die grammatischen Strukturen „in entsprechende Konstruktionen der Zielsprache abgebildet“ werden (63). Stiläquivalenz liegt vor, wenn die Stilebene des Zieltextes der des Ausgangstextes entspricht. Und Textäquivalenz ist gegeben, wenn der Zieltext den gleichen kommunikativen Effekt wie der Ausgangstext hat. Diese vier Äquivalenzen bauen aufeinander auf.

Ausgerüstet mit diesem Instrumentarium untersucht Ziegert ausgewählte Texte aus Numeri. Es handelt sich dabei um Repräsentanten aller Texttypen: Num 1,20−47; Num 6,22−27; Num 10,33−36; Num 11,1−35; Num 15,1−41; Num 21,1−35; Num 24,3−9 und Num 33,1−49. Der griechische Zieltext wird dabei jeweils detailliert und gründlich mit dem masoretischen Text mit Berücksichtigung des samaritanischen Pentateuchs und gegebenenfalls der übrigen alten Übersetzungen verglichen.

Als wichtigste Ergebnisse können genannt werden, dass in einigen Texten die informative bzw. operative Komponente gegenüber dem hebräischen Ausgangstext verstärkt wurde. Die expressive Komponente wurde dagegen in allen poetischen Texten abgeschwächt, was aber wegen der unterschiedlichen poetischen Mittel im Hebräischen und Griechischen – Parallelismus im Gegensatz zum Metrum – in der Natur der Sache liegt. Wort- und Strukturäquivalenz liegt in allen Texten vor, Stiläquivalenz dagegen nur sporadisch in einigen Texten. Das griechische Numeribuch kann daher als wortgetreue Übersetzung mit einer Tendenz zur philologischen Übersetzung charakterisiert werden. Es kann dagegen nicht als Interlinearübersetzung angesehen werden, die dazu dienen sollte, den hebräischen Text zugänglich zu machen. Der hebraisierende Stil der Übersetzung ist jedoch gewollt, um eine „Dimension der Fremdheit“ zu vermitteln, „die bei den Rezipienten positiv konnotiert war“ (288). Die einzelnen Skopoi der untersuchten Abschnitte werden deutlich herausgearbeitet. Vor allem handelt es sich um Verdeutlichungen und Erklärungen, die die Texte verständlicher machen sollen, und Aktualisierungen für die griechischsprachigen Leser in der Diaspora. Am interessantesten sind jedoch intertextuelle Bezüge zu anderen Texten im Pentateuch, die die Warnung an die Leser, sich anders zu verhalten, verstärken, wie sie z. B. in Num 11,1−35 mit intertextuellen Bezügen auf Gen 19, Ex 32 und Lev 10 zu finden sind. Als Sitz im Leben des griechischen Numeribuches wird die synagogale Gesetzesunterweisung im hellenistischen Alexandria bestimmt.

Aus textkritischer Sicht kann festgehalten werden, dass das griechische Numeribuch nicht selten Lesarten des samaritanischen Pentateuchs (z. B. Num 21,28) und mutmaßlich auch andere, vom masoretischen Text abweichende hebräische Lesarten widerspiegelt (z. B. Num 15,37−41; 21,5). Die bereits bekannte Fluidität des biblischen Textes findet sich also auch hier bestätigt.

Dieses Buch reiht sich in die wachsende Menge der Veröffentlichungen zur Erforschung der Septuaginta ein. Es geht in der Menge jedoch nicht unter, sondern füllt eine Lücke, indem eine sinnvolle Theorie auf ein bestimmtes Buch der Septuaginta konsequent angewandt wird und dadurch nachvollziehbare Ergebnisse erzielt werden. Daher ist es für Septuagintaforscher interessant und empfehlenswert, darüber hinaus aber auch für diejenigen, die die im Buch behandelten Texte in der hebräischen Bibel textkritisch untersuchen wollen.

Trotz des positiven und überzeugenden Gesamteindrucks können folgende Kritikpunkte erwähnt werden. T. Muraokas Wörterbuch zur Septuaginta wird im gesamten Buch nicht erwähnt, obwohl es bereits 2009 veröffentlicht wurde und ausführlicher als das Wörterbuch von J. Lust, E. Eynikel und K. Hauspie ist. Bei der Diskussion von Num 1,45 argumentiert Ziegert mit der falschen hebräischen Form צבאהם, was eine Singularform des Nomens צבא mit Pronominalsuffix der 3. Person masculinum plural sein soll. Es müsste freilich צבאם heißen (vgl. Gen 2,1) und die Argumentation müsste verändert werden. Für Num 15,22−31 postuliert Ziegert einen Lernprozess des Übersetzers, der in den ersten zwei Konditionalsätzen noch das eigentlich fehlerhafte καί apodoticum gebraucht, es aber in den folgenden zwei Konditionalsätzen vermeidet. Dagegen ist festzustellen, dass schon in Num 10,4 und 14,8 kein καί apodoticum gebraucht wird, obwohl im hebräischen Text die Apodosis mit ו eingeleitet wird. Von einem Lernprozess innerhalb von Num 15 kann darum keine Rede sein. In der Diskussion von ἐπίσκεψις in Num 1,21 wäre ein Rückgriff auf das im rabbinischen Hebräischen belegte Nomen פִּקּוּדִים „Musterung“ sinnvoll gewesen. Ziegert denkt nur an das biblisch-hebräische Nomen פְּקֻדָּה und muss darum eine Buchstabenverwechselung in der Vorlage oder durch den Übersetzer und dazu noch konsequente scriptio defectiva annehmen (פקדהם statt פקדתם). Damit ist auch der letzte Kritikpunkt berührt. Ziegert hätte optimistischer sein dürfen, was den Gebrauch von Vokalbuchstaben im masoretischen Textes betrifft, weil die biblischen Handschriften aus Qumran deutlich machen, dass der masoretische Text im Vergleich zu Manuskripten in der Schreibtradition von Qumran in dieser Hinsicht konservativ ist. Ziegert nimmt an mehreren Stellen an, dass lange Vokale am Wortende defektiv geschrieben worden sein könnten, um Unterschiede zwischen dem Septuagintatext und dem masoretischen Text zu erkären. Dies betrifft die Endungen –ū und –ā von Verbformen der 3. Person plural bzw. der 3. Person femininum, die nominale Endung des Status constructus –ē und das enklitische Personalpronomen der dritten Person masculinum singular am Objektmarkierer את. Zumindest bei den drei letztgenannten Endungen ist dies mehr als fragwürdig, solange keine vergleichbaren und eindeutigen Belege in anderen Texten zur Unterstützung genannt werden.

 

Dr. Michael Malessa, Dozent für Altes Testament und biblische Sprachen am Biblical Seminary of the Philippines und an der Asia Graduate School of Theology, Manila, Philippinen

 

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