Yosef Ofer: The Masora on Scripture and Its Methods
Yosef Ofer: The Masora on Scripture and Its Methods, FoSub 7, Berlin/Boston: de Gruyter, 2019, geb., 286 S., € 129,95, ISBN 978-3-11-059574-1
Die Reihe Fontes et Subsidia ad Bibliam pertinentes (FoSub) bietet entsprechend der Angabe des Verlags ein Forum für bibelwissenschaftliche Referenzwerke, in dem Forschungshilfen wie Editionen, Textsammlungen, Wörterbücher und Synopsen erscheinen. Auch das vorliegende Werk des israelischen Masora-Experten Yosef Ofer (Bar-Ilan) hat einen Platz in dieser Reihe gefunden. Hier ist es in der Tat besser aufgehoben als in einer Lehrbuchreihe, obwohl es auf Vorlesungen des Autors basiert. Doch für ein Lehrbuch ist das Niveau zu hoch und die Darstellung nicht kohärent genug – dafür ist z. B. Kelley et al., Die Masora der Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 2003, besser geeignet.
Die 15 Kapitel des Buches sind in drei Teilen organisiert. Der erste Teil, fast wie der Buchtitel überschrieben mit „The Biblical Masora and its Methods“, ist noch eher „aus einem Guss“ als die anderen beiden Teile. Sein Inhalt lässt sich in fortgeschrittenen Hebräisch-Kursen und Seminaren sicher gut verwenden. Im ersten Kapitel wird die Arbeit der Masoreten zunächst grundsätzlich beschrieben. Der Autor liefert hilfreiche Beispiele für die Masora parva am Spaltenrand und die Masora magna am Seitenrand eines Codex und bietet zahlreiche Fotos von mittelalterlichen Manuskripten. Dieser Zugang bietet einen Vorteil gegenüber dem mittels einer Druckausgabe (wie etwa bei Kelley et al.), da man die Elemente einer Masora „im Original“ sieht. Für den deutschen Kontext ungewöhnlich – allerdings nicht für den israelischen – ist die Verwendung des Aleppo Codex (A) anstelle des Codex Leningradensis (L) als Referenzhandschrift. Dieser Codex von ca. 925 n. Chr., von Aaron Ben Asher vokalisiert und mit einer Masora versehen, ist fast 100 Jahre älter als L, aber seit dem Progrom von Aleppo im Jahre 1947 nicht mehr vollständig – es fehlen der größte Teil der Tora und einige Teile der Ketuvim (vgl. Kap. 8). Deutlich wird anhand der Beispiele, dass die Masora in verschiedenen Handschriften unterschiedlich ist, da jeder Masoret selbst entschied, welche Informationen er präsentieren wollte.
Im zweiten Kapitel betont der Autor, dass die Masora die inhaltlichen und grammatischen Unterschiede zwischen den Lesarten an verschiedenen Textstellen nicht kommentiert. Stattdessen werden orthographische Differenzen dokumentiert. Das Interesse der Masoreten lag in der korrekten Schreibung bei der Reproduktion der Texte. Deshalb wird in der Masora parva auch nicht die Häufigkeit der im Text vorkommenden Lexeme genannt, sondern die Häufigkeit von Wörtern inklusive Proklitika (wie Präpositionen oder ו) mit einer bestimmten Orthographie.
Das dritte Kapitel stellt fest, dass sich A und L sowie weitere wichtige mittelalterliche Handschriften im Text fast nur in Bezug auf die Orthographie voneinander unterscheiden (Plene- und Defektivschreibung). Auf der anderen Seite lässt sich feststellen, dass sich die Masora von L manchmal auf den Text von A bezieht! Sie ist also nicht am eigenen Text geprüft, sondern entstammt einem anderen Manuskript. Das zeigt zum einen, dass der Masoret von A professioneller gearbeitet hat, und zum anderen, dass A der bessere und anerkanntere Text war, da die meisten Masoren sich auf diesen Text beziehen. (Die Information, dass die Masoreten nicht identisch waren mit den Schreibern, die den Konsonantentext kopierten, bevor die Masoreten Vokalzeichen, Akzente und die Masora hinzufügten, wird beim Leser als bekannt vorausgesetzt.)
Kapitel 4 beschreibt die als „akkumulative Masora“ bezeichneten Wortlisten. Hier erscheinen z. B. alle Wörter, die mit demselben Konsonantenpaar beginnen. Teile davon wurden in der Masora magna am Seitenrand verwenden, aber nur zu Dekorationszwecken.
In Kapitel 5 diskutiert der Autor die als Petuchot und Setumot bezeichneten „offenen“ und „geschlossenen“ Textabschnitte, deren Grenzen in den Manuskripten als Zeilenumbruch bzw. als Leerraum innerhalb der Zeile markiert wurden. Das gehörte zur Aufgabe der Schreiber, nicht zur Tätigkeit der Masoreten. Einheitlichkeit zwischen den verschiedenen Manuskripten gibt es nicht.
Im sechsten Kapitel werden die Ketiv– und Qere-Lesarten ausführlich thematisiert. Die verschiedenen Theorien zu ihrer Entstehung stammen aus dem Mittelalter: Während David Kimchi (12./13. Jh.) davon ausging, dass sie Textvarianten dokumentieren sollten, bietet für Abravanel (15. Jh.) das Qere eine Korrektur des Ketiv. Yosef Ofer bevorzugt eine alternative Erklärung: Er geht davon aus, dass der Text des Tanach parallel in schriftlicher (unvokalisierter) und mündlicher Form überliefert wurde. Das entspricht Dtn 31,9–13, wo ausgesagt wird, dass die Tora erst geschrieben und dann gelesen wurde (vgl. die jüdische Tradition der schriftlichen und mündlichen Tora). Als die mündlich übermittelte Lesetradition in der Gefahr war verlorenzugehen, wurden Vokale und Akzentzeichen für die Kantillation notiert. In diesem Rahmen wurden auch Ketiv und Qere dokumentiert. Die Qere-Anweisungen gehören also zum Vokalisierungssystem dazu. Das im Text Geschriebene wurde nicht korrigiert, die fehlende Übereinstimmung konnte diskutiert, musste aber nicht aufgelöst werden.
Im letzten Kapitel des ersten Teils wird die Masora in Anlehnung an die Informationstheorie als „Error Correcting Code“ bezeichnet. Die Zählungen in der Masora parva dienen zum Entdecken von Fehlern, die Angaben in der Masora magna zum Korrigieren. Außerdem bewirkte die ständige Wiederholung der Worthäufigkeiten in der Masora parva eine Stabilität, die zur Vermeidung von Fehlern führte.
Die Kapitel des zweiten Buchteils („The Masoretic Text in Time and Space“) sind nur lose miteinander verbunden. Kapitel 8 ist dem Aleppo Codex und seiner bewegten Geschichte gewidmet. Weitere Themen sind die babylonische Masora, die im Gegensatz zur tiberischen nicht am Seitenrand, sondern in einem eigenen Codex notiert wurde (Kap. 9), die Entwicklung des proto-masoretischen Textes des 1. Jh. zum masoretischen Text des Mittelalters (Kap. 10), die unterschiedliche Darstellung des sekundären Wortakzents durch Meteg in Handschriften und Editionen (Kap. 11) sowie die verschiedenen Druckausgaben des masoretischen Textes (Kap. 12).
Im dritten Teil („The Masora in Interaction with Other Disciplines“) verdeutlichen zwei Kapitel (Kap. 13 und 14), dass die Masoreten wenig Interesse an Grammatik und Exegese hatten. Implizite Anmerkungen zu inhaltlichen Aspekten liegen in den als Sebirin (sebir: „es wird angenommen, man meint“) bezeichneten Anmerkungen vor, die falsche Lesarten zum Schutz der richtigen dokumentieren. Überraschend ist, dass andere masoretische Anmerkungen 18 Lesarten als euphemistische Korrekturen früherer Schreiber (Tiqqune soferim) markieren (nicht aber in A und L). Das 15. Kapitel thematisiert die Frage nach der Verbindlichkeit der Masora im Rahmen der Halacha.
Vor allem der erste Teil des Buches ist sehr anregend. Aufgrund seines hohen Niveaus ist es Studierenden nur eingeschränkt zu empfehlen, was eine Verwendung durch Lehrende jedoch keinesfalls ausschließt!
Prof. Dr. Carsten Ziegert, Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen