Jörg Breitschwerdt: Die Geschichte des Albrecht Bengel-Hauses
Jörg Breitschwerdt: Die Geschichte des Albrecht Bengel-Hauses. Die Gründung im Kontext der theologischen und gesellschaftlichen Umbrüche Mitte der 1960er Jahre, Band 1, Bielefeld: Luther, 2019, geb., 360 S., € 19,90, ISBN 978-3-7858-0765-1
Die ABH-Ausschussmitglieder Martin Pfander, Martin Holland und Hans Eißler, wie man sie als ehemaliger Studentensprecher von der Sitzung kennt – auf dem Buchcover: Ja sind wir denn schon Geschichte?! – Richtig! Seit der Gründung des Albrecht-Bengel-Hauses sind fünfzig Jahre vergangen. Die jüngere Theologengeneration kennt die Anfänge nicht mehr aus eigener Anschauung oder von direkten Erzählungen derer, die dabei gewesen sind. Daher ist es sinnvoll, dass Jörg Breitschwerdt die alten Akten durchforstet hat und jetzt die Gründungsgeschichte des Bengelhauses bis zum ersten Wintersemester 1970/71 erzählt. Knapp 1.300 Anmerkungen, ein Dokumentenanhang (297–322) und das Verzeichnis ungedruckter und gedruckter Quellen (325–338) belegen, wie gründlich Breitschwerdt die ältesten Unterlagen gesichtet hat.
In seiner Einleitung stellt der Verfasser Motivation und Ziel seiner Arbeit, ihre Gliederung, die bisherige Erforschung des Themas und die Quellenlage dar (Teil 1, 11–20).
Der zweite Teil fasst die theologischen und kirchenpolitischen Hintergründe der Bengelhausgründung kurz zusammen (21–65). Eine ausgesprochene „Konfessionalisierung“ spaltet den Protestantismus in inhaltlichen Fragen schon im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert werden in Tübingen die Lehrstühle von Adolf Schlatter und Adolf Köberle mit dezidiert liberalen Theologen besetzt. Dazu kommt es infolge der Kontroverse um Bultmanns Entmythologisierungsprogramm zu einer Polarisierung in Gemeinden und Pfarrerschaft. In den sechziger Jahren wendet sich der Deutsche Evangelische Kirchentag gesellschaftspolitischen Themen zu, was auch zu Auseinandersetzungen bei der Vorbereitung und Durchführung des Kirchentags 1969 in Stuttgart führte. Viele konnten sich damals nicht des Eindrucks erwehren, „am Sterbebett unserer Kirche“ zu stehen (63).
Ausführlicher als der zweite Teil über die historische Spaltung des Protestantismus ist der dritte Teil von Breitschwerdts Untersuchung über die Studentenunruhen, die unmittelbar zur Gründung des Albrecht-Bengel-Hauses führten (Teil 3, 67–176). Ausgehend vom Frankfurter Institut für Sozialforschung beschreibt der Verfasser, wie durch eine Kulturrevolution (84) Änderungen der Gesellschaft hin zu einem sozialistischen Ideal bewirkt werden sollen. – Dieser Abschnitt des Buchs ist besonders deshalb interessant, weil die beschriebenen Tendenzen bis in die Gegenwart hineinwirken. – Einzelaspekte wie die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, die Spiegelaffäre, die Ausarbeitung der Notstandsgesetze und das Entstehen einer Außerparlamentarischen Opposition (APO), auch der Protest gegen den Vietnamkrieg führen mit zu seiner radikalisierten Studentenbewegung, die die gesamte Gesellschaft mit den Vorstellungen der „Neuen Linken“ durchdringen will (116). Auch Tübingen und die Theologischen Fakultäten bleiben von diesen Entwicklungen (117–176), die zwischen Juni 1967 und Juli 1969 ihren Höhepunkt erreichen (124–150), nicht ausgenommen. Unter Theologiestudenten gab es damals Bestrebungen, die Kirche von innen durch zukünftige radikalisierte Pfarrer auszuhöhlen und auf der Grundlage einer marxistischen Gesellschaftsanalyse umzugestalten (159, 163). Obwohl sich der Neutestamentler Ernst Käsemann mit den revoltierenden Studenten solidarisierte, wurde er als Vertreter des kirchlich-theologischen Establishments kritisiert (141f, 164). Der Fall der abgelehnten Pfarramtsbewerberin Regula Rothschuh und die Abschaffung des Tischgebets im landeskirchlich subventionierten Studienhaus, dem altehrwürdigen Evangelischen Stift, waren zwei Streitpunkte in der Kirche und in den örtlichen politisierten Theologiestudentenkreisen. Dadurch wurde der württembergische Pietismus alarmiert (164–170,171–176).
Im Hauptteil beschäftigt sich Breitschwerdt mit der Entstehung des Bengelhauses in diesen stürmischen kirchlichen Zeiten (Teil 4, 177–281), er arbeitet die sich zuspitzende Lage in der Kirche, an der Tübinger Universität und im evangelischen Stift jeweils mit ein. Von beunruhigten Pfarrern und Gemeindegliedern, die immer mehr Studienabbrüche registrierten, ging die Initiative des Synodalgesprächskreises „Bibel und Bekenntnis“ aus (178f). Auch konservative Professoren (Otto Michel, Peter Beyerhaus und andere) waren besorgt (181f). Seit Ende April 1969 trafen sich Interessierte in Bernhausen und diskutierten verschiedene Modelle, um die Krise in der Theologenausbildung zu beheben (183–212). Neben dem Modell eines studienbegleitenden Hauses wurde abweichend auch eine freie Ausbildungsstätte wie die Studienarbeit Krelingen favorisiert; andererseits wurde auch die Meinung vertreten, dass eine größere theologische Weite nötig sei (231–235). So kam es schließlich zur Gründung des Vereins Albrecht-Bengel-Haus am 27. Dezember 1969 im Haus der altpietistischen Gemeinschaft in Stuttgart (236f). Peter Beyerhaus war designierter erster Rektor; als erster Studienleiter waren der von der Moralischen Aufrüstung (MRA) in Caux geprägte Klaus Bockmühl und als Favorit der damalige Pfarrer z. A. Gerhard Maier im Gespräch, der noch nicht antreten konnte. So einigte sich der Vorstand auf den Heidenheimer Dekan Walter Tlach als vorübergehenden Leiter, bis Maier antreten konnte (247–262). Tlach leitete das Haus in seinen nicht leichten Anfängen bis 1978 und wohnte seit September 1970 auch in der Gartenstraße 57, wo das Studienhaus zuerst untergebracht war. Im Oktober wurde der Studienbetrieb aufgenommen (274–281).
Zwei kurze Abschnitte stehen am Ende des Buchs: Im 5. Teil gibt Breitschwerdt einen Ausblick auf die Themen und Entwicklungen, die das Haus bis in die frühen 1980er Jahre bewegten (285–287). Weiter fasst er im Schlussabschnitt den Ertrag der ABH-Gründung zusammen, der den nicht-separatistischen Kurs des württembergischen Pietismus dokumentiere (Teil 6, 289–295). Man könnte hinzufügen, dass das Bengelhaus seit seinen ersten Jahren auch ein Beispiel für die Einheit in der evangelikalen Vielfalt war: Standen der aus der erweckten lutherischen Tradition kommende Peter Beyerhaus und der von der hallischen Studienarbeit geprägte Otto Michel als Paten an der Wiege des Studienhauses, so kann man das Haus auch später nicht auf eine Linie einer eher „positiven“ oder eher „bibeltheologischen“ Theologie festlegen wollen. Diese Spannung bleibt fruchtbar für das Gespräch mit der wissenschaftlichen Theologie und der Gemeinde.
Beim Verlag ist das Werk nach einem halben Jahr schon vergriffen. Im Albrecht-Bengel-Haus sollte man es aber noch erwerben können.
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein