Markus Witte / Jan Christian Gertz (Hg.): Hermeneutik des Alten Testaments
Markus Witte / Jan Christian Gertz (Hg.): Hermeneutik des Alten Testaments (VWGTh 47), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017, 220 S., € 48,–, ISBN 978-3-374-05092-5
Auf die von dem Berliner evangelischen Systematiker Notger Slenczka ausgelöste Debatte um die Geltung des Alten Testaments in der Kirche (Slenczka selbst hat die Debatte dokumentiert: www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/professuren/st/AT), antwortet der vorliegende Aufsatzband der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, herausgegeben von den Alttestamentlern Markus Witte (Berlin) und Jan Christian Gertz (Heidelberg).
Jeder der darin enthaltenen Aufsätze ist unbedingt lesenswert, und die meisten von ihnen auch unbedingt zu lesen – ob zustimmend oder in kritischer Auseinandersetzung.
Im Einzelnen handelt es sich um: Manfred Oeming: Der Kampf um das Alte Testament. Ein Plädoyer für das Alte Testament als notwendigen Bestandteil des christlichen Kanons (1–40), Ludger Schwienhorst-Schönberger: Einleuchtend. Führt das christlich-religiöse Bewusstsein zur Herabstufung des Alten Testaments? (41–55), Thomas Söding: Im Klang des Wortes Gottes. Gesetz, Psalmen und Propheten im Markusevangelium (56–70), Oda Wischmeyer: Paulus als Hermeneut der γραφη (71–94), Volker Henning Drecoll: Das Alte Testament in der Alten Kirche (95–110), Markus Wriedt: Nisi scritpurae dederimus prinipem locum. Zur Hermeneutik des Alten Testaments bei Martin Luther und im Zeitalter der Reformation (111–132), Jörg Lauster: Händels Auferstehung. Die affirmative Genealogie des Christentums und das Alte Testament (133–143), Notger Slenczka: Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip. Bemerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis (144–165), Alexander Deeg: „Auch für dich“ und das messianische „heute“. Überlegungen zur Hermeneutik des Alten Testaments aus homiletischer Perspektive (166–187), Michael Fricke: Bedeutung und Umgang mit dem Alten Testament in der Religionspädagogik (188–208). Ein Register zu Autoren und Bibelstellen sowie ein Verzeichnis der Autoren beschließen den Band, der durch ein Vorwort der Herausgeber eingeleitet wird, in dem die jeweiligen Aufsätze knapp zusammengefasst sind.
Der sehr begrenzte Raum lässt hier nur einige Stichpunkte zum Inhalt und wenige Hinweise zur kritischen Würdigung der Aufsätze zu, die jeder eine weit ausführlichere Besprechung erforderten.
Der Heidelberger Alttestamentler Manfred Oeming setzt die kritischen Stimmen zum Alten Testament in der Gegenwart („die Angreifer“) in Beziehung zu den divergierenden Bewertungen des Alten Testaments im Neuen, fasst wichtige Strategien und einzelne Vertreter zusammen, die für die Bedeutung des Alten Testaments argumentieren („die Verteidiger“, insgesamt 12 Unterpunkte) und schließt mit dem Versuch einer persönlichen Antwort auf die Aufgabe einer Hermeneutik des Alten Testaments, die insbesondere den über die Christologie hinausgehenden Beitrag der Gotteslehre als Pluralität der Zugänge zu Gott herausstellt.
Neben vielen wertvollen Beobachtungen und markanten Formulierungen sei hingewiesen auf 1) die Erinnerung (oder für viele: die Neuentdeckung) eines Aufsatzes von Ernst Würthwein aus dem Jahre 1934, dem Oeming auch heute noch wichtige Impulse entnehmen kann; 2) auf die mit markanten selbstkritischen Formulierungen eingeforderte Neuausrichtung der alttestamentlichen Wissenschaft; 3) auf Oemings Aufweis (in Reaktion auf Slenczka), dass gerade auch historisch-kritische Exegese eben nicht (notwendig) zu den viel zu undifferenzierten Schlussfolgerungen führt, die Slenczka zieht; 4) auf die Bestimmung zentraler Aufgaben alttestamentlicher Wissenschaft und 5) die Forderung Oemings, „Theologie soll Theologie sein“ und dürfe nicht exklusiv nur Christologie betreiben (39).
Der katholische Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger führt seine bereits veröffentlichte Kritik an den Thesen von N. Slenczka fort, wonach durch die vorgeordnete Rolle des religiösen Selbstbewusstseins, an dem sich auch der Kanon messen muss, eine Kritik an diesem selbst nicht mehr möglich ist. Zu beachten ist dieser Beitrag u. a., da er die sonst meist zu wenig beachtete Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Kanon/Heilige Schrift mit berührt.
Der katholische Neutestamentler Thomas Söding sieht in Anknüpfung an Joseph Ratzinger eine wesentliche Aufgabe darin, eine Hermeneutik der Bibel von einer Theologie des Wortes Gottes her zu rekonstruieren, bei der das Wort Gottes nicht mit der Theologie der Bibel gleich zu setzen ist, sondern wo das Wort Gottes „polyphon“ in der Theologie der Bibel anklingt. In seinem Durchgang durch das Markusevangelium erweist sich für Söding dessen Bezug auf Gesetz, Psalmen und Propheten als konstitutiv und schließt daraus, dass im Markusevangelium die Verkündigung Jesu konfliktreich auf die Bibel Israels bezogen ist, ohne diesen aber „in der Luft hinge“, denn Gott ist mit sich selbst identisch (vgl. 69). Damit bringt Söding in die Debatte den differenzierten Bezug auf das Alte Testament bei Markus, den Wert der vielgestaltigen Zeugnisse von Gott, das notwendig konfliktreiche Verhältnis der kanonischen Schriften ein sowie das Plädoyer, die Bibel nicht auf „theologische Inhalte“ zu reduzieren.
Einen weiteren, wichtigen Beitrag zum differenzierten Gebrauch des Alten Testaments im Neuen Testament liefert die Erlanger emeritierte Neutestamentlerin Oda Wischmeyer. Ihrer Skizze zum Schriftgebrauch bei Paulus (die Septuaginta ist ihm selbstverständliche Anrede Gottes, benötigt den Schriftbezug aber nicht in allen Argumentationen; sein Evangelium basiert auf „der Schrift“ aber überbietet sie auch; Verhältnis von Buchstabe und Geist) stellt sie maßgebliche Positionsbestimmungen voran zum Verhältnis von Kirche und Theologie, den unterschiedlichen theologischen Disziplinen und wie diese zur Frage nach der Bedeutung des Alten Testaments in der Kirche betroffen sind sowie in Bezug auf die verschiedenen Kanongestalten in den unterschiedlichen Konfessionen. Beide Teile sind der intensiven Beschäftigung anbefohlen.
Dass bei der Frage nach der Kanonizität des Alten Testaments an einer gründlichen historischen Arbeit kein Weg vorbeiführt (so wenig sie freilich darin aufgeht!), zeigt der Beitrag des Kirchenhistorikers Volker Henning Drecoll. Er erweist die pauschalen Urteile über Markion, die Gnosis und die Manichäer als zu simpel, hebt die Pluralität des Judentums zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments hervor und die dem entsprechende Pluralität der Heiligen Schriften (mit bedenkenswerten Implikationen für das Verhältnis von Judentum und Christentum und die Kanongeschichte). Mit einigen Hinweisen zur großen Bedeutung des Alten Testaments in der Alten Kirche in seinem Gebrauch im Gottesdienst und seiner Bedeutung in der Theologie und Exegese und auswertenden Überlegungen schließt Drecoll.
In den durchaus mannigfaltigen Bezugnahmen auf Luther in der Debatte bietet Markus Wriedt wichtige Orientierungshilfen. Diese bestehen vor allem darin, dass er den dynamischen Charakter der Verhältnisbestimmungen Luthers wahrt und hervorhebt, und zwar was das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament betrifft wie die Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Wriedt schließt seine Skizze mit Überlegungen zum Beitrag Luthers in gegenwärtigen Debatten.
Dass sich das Schleiermacher’sche Theologiemodell auch mit einer positiveren Haltung zum Alten Testament verbinden ließe, versucht Jörg Lauster zu zeigen. Dies gelänge dann, wenn man die alttestamentlichen Gehalte als Repräsentationen von Gotteserfahrung sieht (so interpretiert Lauster das personale Gottesverständnis im Alten Testament; vgl. 138) und die Ideengeschichte hinter der Entstehung der alttestamentlichen Texte rekonstruiert. Er kombiniert damit den Schleiermacher’schen religiösen Subjektivismus mit einem geschichtstheologischen Ansatzpunkt. Demnach würde das Alte Testament wichtige „Anfangsimpulse“ setzen für die Ideengeschichte und deren begriffliche Durchdringung im Christentum. Dieser Beitrag reizt schon angesichts der Voten von Söding und Oeming (Bibel darf nicht auf „theologische Inhalte“ reduziert werden; Pluralität der Zugänge zu Gott) zum Widerspruch.
Notger Slenczka selbst geht in seinem Aufsatz dem ambivalenten Verhältnis von Rezeptionshermeneutik und Schriftprinzip nach und bietet einen bedenkenswerten Versuch, das Anliegen in der Hermeneutik Luthers mit zentralen Einsichten der Rezeptionsästhetik zu verbinden.
Vieles ist zu würdigen an diesem Aufsatz: Da ist die Intensität, mit der sich S. Entwicklungen in den Bibelwissenschaften aneignet und durchdringt und diese den Erfordernissen nach systematischen Klärungen und Präzisierungen aussetzt bzw. mit diesen konfrontiert (siehe auch Oemings Votum im Blick auf die „Zunft der Alttestamentler“). Da ist die Problematisierung einer vereinfachenden Übernahme der Intertextualitätshermeneutik. Da ist die klärende Bestimmung des Kanons als Begrenzung von Pluralität. Da ist die hilfreiche Klärung des Verhältnisses von Luthers Hermeneutik (passive Rolle) und der Einsicht in die konstitutive Rolle des Lesers (aktive Beteiligung). Da ist die bedenkenswerte Differenzierung zwischen Haupttext und Nebentexten in der Intertextualitätshermeneutik und die Aufnahme von Ricœurs Hermeneutik. Anzufragen wäre in Bezug auf den Kanonbegriff, ob in diesem nicht die Argumente für die „Mitte der Schrift“ an die Stelle ihres kanonischen Umfangs tritt und ob die ausschließliche Orientierung an der „Selbstdeutung des Lebens“ nicht mindestens in der Gefahr steht, weitere Themen der Theologie aus dem Blick zu verlieren, die nicht an der Selbstdeutung zu messen sind (Bsp. Hymnus/Lobpreis).
Der Praktische Theologe Alexander Deeg (Leipzig) skizziert, wie er sich die Predigt des Alten Testaments als „Predigt im Angesicht des Judentums“ (Rudolf Bohren) vorstellen kann als Neuakzentuierung der homiletischen Hermeneutik Luthers. Geht es Luther beim Predigen um „die Ansage und Zusage der Relevanz der biblischen Botschaft“ – und zwar „für dich“ (also individuell und persönlich) und „heute“ (also: in der jeweiligen Lebenssituation), sollte dies im Kontext des jüdisch-christlichen Dialogs dahingehend verändert werden, dass die alttestamentlichen Texte „auch für dich“ (neben dem Judentum) und in das „messianische heute“ (d. h. in Erwartung und Hoffnung, dass sich die biblischen Zusagen als Erfahrung der Gegenwart Gottes erfüllen) sprechen.
Schließlich verdient der Aufsatz von Michael Fricke mit seiner Bestandsaufnahme zur Stellung des Alten Testaments in der Religionspädagogik Beachtung, da in diesem gut sichtbar wird, welche Auswirkungen hermeneutische Entscheidungen in der Praxis haben und wie diese wiederum eine Klärung der Hermeneutik erfordern.
Wer sich den hier vorgetragenen Überlegungen, historischen Rekonstruktionen und nuancierten hermeneutischen Problemen stellt, wird die Sensibilität für die Fragestellung und das hohe Maß an selbstkritischen Reflexionen begrüßen und mit pauschalen Verurteilungen ebenso vorsichtig sein müssen wie mit vollmundigen Lösungsversuchen.
Eindrücklich führt der Band vor Augen, dass historisch-kritisches Arbeiten vielgestaltiger ist, als es in den Argumentationen Slenczkas wahrgenommen ist, dass sich jegliche Hermeneutik des Alten Testaments der Vorfindlichkeit verschiedener Kanongestalten stellen muss, dass schon die neutestamentlichen Autoren durchaus vielgestaltig auf die „Schrift“ Bezug genommen haben, der Beitrag der katholischen Exegese und hermeneutischen Klärungen enorm an Bedeutung gewonnen hat, und vor allem eine Hermeneutik des Alten Testaments ohne Reflexion über die divergierende Rezeption im Judentum (in der Zeit der Entstehung des Christentums wie in der Gegenwart) schlechterdings nicht möglich ist.
Es bleibt die Aufgabe, mehrere spannungsvolle Beziehungen ernst zu nehmen und zu integrieren: die spannungsvolle Bezugnahme von Judentum und Christentum auf sich überschneidende Kanones (die hebräische Bibel und die griechische Septuaginta), eine als dynamisch zu fassende Verhältnisbestimmung von Kirche und Kanon, und die von Altem und Neuem Testament (wie den einzelnen Schriften) als Verhältnis sowohl der Kontinuität und Einheit als auch der Diskontinuität und Verschiedenheit.
Prof. Dr. Torsten Uhlig, Professor für Altes Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg