Neues Testament

Joachim Orth: Das Muratorische Fragment

Joachim Orth: Das Muratorische Fragment. Die Frage seiner Datierung, Aachen: Patrimonium Verlag, 2020, Softcover, 366 S., € 29,80, ISBN 978-3-86417-137-6


Diese Publikation ist die überarbeitete Dissertation im Fach Kirchengeschichte (bei Prof. Wolfgang Wischmeyer) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Joachim Orth, geboren 1951, studierte ursprünglich Evangelische Theologie in Siegen, war dann Religionslehrer und danach Pastor in einer freikirchlichen Gemeinde in Österreich. Die von Orth meistens gebrauchte Bezeichnung „Muratorisches Fragment“ bezieht sich darauf, dass Anfang und Schluss des Textes fehlen. Diese fehlenden Stücke waren aber wohl nur kurz, daher würde ich das Fragmentarische nicht überbetonen, und spreche lieber vom „Kanon Muratori“ (eine andere Bezeichnung lautet „Muratorianum“). Benannt wurde der anonym erhaltene Text nach dem Entdecker, dem Archivar Lodovico Antonio Muratori in Mailand. Der Text bespricht die kirchlich anerkannten (später so bezeichneten) neutestamentlichen Schriften und deren Entstehung, außerdem mehrere abgelehnte Schriften. Orth präsentiert eine Interlinear-Übersetzung (Latein – Rückübersetzung ins Griechische – Deutsch; 15–23) und anschließend eine flüssige Übertragung ins Deutsche (24–26).

Wie schon der Untertitel sagt, möchte Orth die Datierung dieses Muratorischen Fragments (abgekürzt MF) klären. Dazu gibt es die traditionelle Datierung auf das späte 2. Jh. („Frühdatierung“), die jedoch in den letzten Jahrzehnten von den US-Amerikanern Albert C. Sundberg, Jr. (1973), und Geoffrey Mark Hahneman (1992) bestritten wurde. Sie plädieren für eine späte Entstehung, nämlich im 4. Jh. Orth begann die Arbeit an seiner Dissertation „ergebnisoffen“, aber es verstärkte sich immer mehr der Eindruck, dass die traditionelle Datierung auf das späte 2. Jh. wesentlich plausibler ist. Insofern kann Orths Buch als Auseinandersetzung mit dem neueren Hauptvertreter der Spätdatierung, also mit Hahneman, und als der Versuch der Widerlegung von dessen These gesehen werden (eine Gegenüberstellung der Thesen: 267–279). Hahneman meint, dass der im MF erwähnte „Hirte des Hermas“ schon um 100 n. Chr. verfasst wurde, und dass das im 4. Jh. im griechischen Osten (Syrien oder Palästina) verfasste MF das Ziel hatte, diesen „Hirten“ deutlich von der apostolischen Zeit (und daher auch von den neutestamentlichen Schriften) abzurücken; dazu habe der Autor des MF einige unzutreffende Angaben über Hermas (z. B. Bruder von Pius, Bischof von Rom um 150 n. Chr.) erfunden. Demnach wäre das MF eine Fälschung (so Orth, 9 oder 132f). Hahneman unterstützt seine Konstruktion durch viele Vermutungen, denen Orth vor allem durch Vergleiche aus Bibel und Kirchengeschichte begegnet. Hahneman hält es z. B. für unwahrscheinlich, dass Hermas der Bruder von Pius, des Bischofs von Rom um 150 n. Chr., war, da im „Hirten des Hermas“ ein solcher Bruder nicht erwähnt wird. Orth entgegnet, dass auch in anderen Apokalypsen – wie etwa der Offenbarung des Johannes – keine verwandtschaftlichen Beziehungen erwähnt werden (136f). Diese Kleinarbeit – die sorgfältige Widerlegung zahlreicher, teils willkürlicher Mutmaßungen Hahnemans, macht die Lektüre etwas mühsam. Aber diese Kleinarbeit ist wohl nötig, um die These Hahnemans in ihrer Gesamtheit als nicht plausibel zu erweisen.

Bereits im Vorwort nennt Orth jene Einzelthemen, zu denen er neue Einsichten liefert: Orth argumentiert für ein griechisches Original: Das MF ist auf Latein erhalten, aber diese erhaltene Fassung wird meistens für eine Übersetzung aus dem Griechischen gehalten. Ein Argument für die alternative Meinung (lateinisches Original) ist das Wortspiel fel (Galle, Gift) und mel (Honig), verwendet im MF als Vergleich: echte und gefälschte Schriften sollen nicht vermischt werden. Orth (99f) verweist darauf, dass diese Gegenüberstellung auch in der LXX zu finden ist, im Zusammenhang mit der verführerischen Frau (Spr 5,3f). Und bei Ignatius (an die Gemeinde in Tralles VI,1f) findet sich eine ähnliche Gegenüberstellung wie bei MF: Das Giftkraut der Irrlehre versus den Honigwein der christlichen Speise. Eine solche Gegenüberstellung scheint demnach in der hellenistischen Welt gängig gewesen zu sein. Wenn man für das MF mit einem Abfassungsort in Italien rechnet, führt ein griechisches Original zu einer Entstehung spätestens um 200 n. Chr.

Orth datiert die Endfassung des „Hirten des Hermas“ auf 140 bis 150 n. Chr. (131), kurz vor Beginn des Übergangs von einem aus Presbytern bestehenden Leitungskollegiums zum Monepiskopat in Rom. Pius (Bischof von etwa 140 bis 155 n. Chr.), laut MF Bruder des Hermas, war laut Orth noch kein solcher „monarchischer Bischof“, sondern ein Leiter in einem Kollegium, ein „primus inter pares“ (129).

Das MF erwähnt mehrere (heute) außer-neutestamentliche Schriften. Orth bespricht deren Akzeptanz bzw. Zurückweisung in der Kirche der ersten Jahrhunderte (mit vielen konkreten Zitaten), um die im MF geäußerte Haltung zeitlich einordnen zu können. Bei der etwa in der Mitte des 2. Jh.s entstandenen Petrus-Apokalypse z. B. meint er, dass sie sich rasch verbreitete und anfangs Anerkennung fand, aber allmählich auf Bedenken stieß, bis sie im 4. Jh. bereits deutlich abgelehnt wurde (244–251). Die „mittlere Position“ des MF passe daher besser in das späte 2. Jh. als in das 4. Jh.

„Inhaltliche Parallelen zu Autoren des 2. und beginnenden 3. Jh.s“, etwa zu Irenäus oder zum antihäretischen Lukasprolog, bespricht Orth in einem eigenen Kapitel (281–302). Einzigartig im 2. Jh. ist allerdings die im MF vorgenommene Einstufung einiger christlicher Schriften als umstritten, zweitrangig oder „sekundär“ im Vergleich zu den apostolischen Schriften (328f). Hierin könnte das MF ein Vorläufer gewesen sein.

Das Buch schließt mit einem „Register antiker Autoren und Schriften“. Mein Fazit: In dieser neuerlichen Untersuchung des Entstehungs-Zeitpunktes des „Kanon Muratori“ bringt Orth eine sorgfältige Abwägung vieler Argumente, und erhärtet die traditionelle Datierung ins späte 2.Jahrhundert, genauer: Ende 2. Jh., vielleicht schon um 170 n. Chr. (329). Außerdem liefert Orth punktuell vertiefte Einblicke in die Geschichte des NT-Kanons.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik