Neues Testament

Rainer Riesner: Messias Jesus

Rainer Riesner: Messias Jesus. Seine Geschichte, seine Botschaft und ihre Überlieferung, Gießen: Brunnen Verlag, 2019, geb., 537 S., € 58,–, ISBN 978-3-7655-9410-6


Was für ein tolles Buch! Rainer Riesner (emerit. Prof. für NT am Institut für evangelische Theologie der TU Dortmund) legt mit diesem gewichtigen Band nicht nur seine umfassenden historischen Kenntnisse und Einsichten zur Person Jesus, sondern auch sein Herzensanliegen einer den antiken Quellen gerecht werdenden und für eine existentielle Begegnung offenen Annäherung an diese Person vor. Hier findet man viele seiner oft verstreuten oder gar vergriffenen Forschungsbeiträge in konzentrierter Form in einer Darstellung der Geschichte und Botschaft von Jesus verarbeitet wieder. Der Titel des Buches ist Programm (Jesus war und ist der Messias Israels) und der Untertitel wichtig. R. wollte ursprünglich Geschichte studieren (XVI) und dieses Interesse spürt man in dieser Darstellung. Mit seiner wissenschaftlichen Karriere als evangelischer Theologe wurde der deutschsprachigen Gilde der Theologen im Grunde auch gleich ein versierter Historiker zur Seite gestellt. Und dieses Jesusbuch gewinnt dadurch ein eigenes Profil, denn hier sind praktisch alle interessierenden Fragen zur Geschichtlichkeit, Archäologie und Geografie rund um Jesus wie in einem Nachschlagewerk aufzufinden und kompetent beantwortet. Möchten Sie wissen, was die neusten Ausgrabungen in Nazareth zu Tage brachten (82–83) oder was man von den zwei Grabstätten von Jesus halten soll, die man in Jerusalem zeigt (381–392)? Oder wussten Sie, dass die sichtbaren Teile der Olivenbäume im heute gezeigten „Garten Gethsemane“ aus dem 12. Jh. stammen, aber nicht auszuschließen ist, dass einige Wurzelstöcke tatsächlich schon zur Zeit von Jesus da waren (375–376)? Oder dass die tyrische Silberdrachme als eine Art antiker Schweizer Franken galt (302) und der Autor R. den schlimmsten Schneesturm seines Lebens nicht in den Alpen, sondern in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1983 in Jerusalem erlebt hat (321, Anm. 96)!

Das Buch ist in 15 Kap. eingeteilt, beginnend mit dem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund der Herkunft, Familie und der Prägung von Jesus bis hin zur Auferstehung und zwei Kap., welche die Fragen der Überlieferung der Botschaft von Jesus (durch Personen und Texte) und der Methodik der Leben-Jesu-Forschung (mit kurzem Forschungsüberblick) behandeln. Nicht ganz einsichtig ist mir die Kapitelüberschrift „Der Freispruch“ für die Ausführungen über die Ereignisse nach dem Tod von Jesus (Grablegung, leeres Grab, Auferstehung, Wiederbegegnungen, erste messianische Gemeinde in Jerusalem) geworden. Der Aufbau folgt chronologischen Überlegungen. So ergeben die Etappen im Leben und Wirken von Jesus die Kap., mit einer besonderen Betonung der Wichtigkeit des Einschnitts durch die sogenannte „Krise in Galiläa“ (siehe vor allem 251 dazu). Wer mehr über die theologischen Linien in der Botschaft von Jesus erfahren möchte, der findet z. B. in Kap. 6 zu „Gottesfamilie und Gotteswille“ ausführlichere Informationen in 18 Abschnitten. Und über das ganze Buch verteilt kommen sehr viele NT-Texte in Riesners Übersetzung, bei Jesusworten bewusst strukturiert (s. dazu den Exkurs 32 zum Memorieren und Notizen) und mit einer Fülle von exegetischen Detaileinsichten und -informationen vor. Insgesamt steht aber die „Geschichte“ von Jesus (s. Untertitel), sein Leben in Raum und Zeit, insbesondere rund um den See Genezareth und in Jerusalem, mit all den historisch bis heute noch fassbaren Spuren seiner Wirksamkeit im Vordergrund. Die historische Glaubwürdigkeit der Ereignisse wird kritisch mit Hilfe antiker Quellen (Texte und Archäologie), inklusive – nach historischen Maßstäben – begründeter Benutzung der neutestamentlichen Evangelien als zuverlässigen Quellen, diskutiert, beleuchtet und angemessen plausibilisiert. Die meisten dieser „historischen Ereignisse“ (also auch der Tod und die Auferstehung von Jesus) werden nur kurz und knapp theologisch gedeutet. Aber das tut der Lesefreude keinen Abbruch. Im Gegenteil, man liest auch vermeintlich „trockene“ Informationen über Orte, Bräuche, Ausgrabungen, Distanzen, politische Zusammenhänge, Definitionen usw. mit Genuss, denn Schreibstil und Leserfreundlichkeit sind auch für interessierte Laien ausgezeichnet gestaltet. Fremdsprachige Worte sind entweder in Klammern gesetzt und für das Textverständnis nicht zwingend nötig, oder aber in Umschrift oder entsprechender deutscher Übersetzung im Kontext zu erschließen. Am Ende jedes Kapitels gibt es eine Literaturliste zum Thema und es sind insgesamt 35 Exkurse jeweils am Ende des zugehörigen Kap. über das Buch verteilt. Der große Teil von ihnen widmet sich konzentriert geografischen Ortschaften oder jesusbiografischen Orten seines Wirkens (vom herodianischen Tempel bis zur Lage von Emmaus). Aber auch die Stammbäume von Jesus, die Gottesanrede „Vater“, Wunder?, das nicht-responsorische Amen, die Frage, ob es zwei Speisungswunder gab, die synoptische Frage und Apokryphe Evangelien werden in einem Exkurs behandelt. Darin sind auch sehr viele – aber nicht alle – der insgesamt 44 (gezeichneten) Abbildungen untergebracht, die meist geografische oder archäologische Lagepläne und Details enthalten. Wer eine Reise zu den wichtigsten Stätten von Jesus in Israel plant, hat damit praktisch einen Reiseführer zur Hand. Und zwar einen überaus kompetenten, mit sachlich verlässlichen und aktuellsten Informationen. Neben Belegen zu älteren oder ersten Ausgrabungsberichten sind auch die weiteren Erkenntnisse bis in die letzten Jahre verarbeitet. Statt einer langen Biografie am Ende des Buches sind die Literaturangaben entweder in den Fußnoten ausführlich angegeben oder im erwähnten Literaturteil jedes Kap. untergebracht. Auch das hilft, um bei einer spezifischen Frage sich rasch zu orientieren und wenn gewünscht, die Originalbelege selbst nachzuschlagen. Die drei Anhänge betreffen eine Zeittafel, die aktuellsten Forschungsergebnisse zum Turiner Grabtuch und ein Liste von ca. 120 besonders einflussreichen Jesus-Büchern seit 1970. Ein Stellen-, ein Namens- und Sach-, sowie ein Autorenregister genügen so, um unter verschiedenen Gesichtspunkten in den 460 S. Haupttext das zu finden, was das Herz begehrt. In einem kurzen Nachwort gibt R. Auskunft über die Personen, die ihn in unterschiedlichen Sachfragen und persönlichen Lebensabschnitten geprägt haben. Auch der Blick auf die Bezüge und Belege im Buch zeigen an, dass R. dankenswerterweise die Arbeiten von Zahn, Jeremias oder auch Pixner, Bruce und Neugebauer besonders schätzt und deren Wissen und Erkenntnisse vor dem Vergessen bewahrt.

Was gibt es zu bemängeln? Inhaltlich kaum etwas. Selbstverständlich muss man nicht alle Ergebnisse und Schlussfolgerungen von R. nachvollziehen (z. B. wären die sogenannten Emmausjünger bei der vorgenommenen Lokalisierung von Emmaus (Nicopolis) in kürzester Zeit insgesamt 46 km „gewandert“). Aber bevor man eine andere Meinung vertritt, gilt es die vorgebrachten Fakten und die grundsätzlich vorsichtigen Schlüsse von R. immer sehr gut zu bedenken. Dass der griech. Schriftsatz fürs Auge etwas zu groß geraten ist, man sich bei einigen Abb. (z. B. 84, 295, 386) wünscht, dass alle Siglen erklärt werden, oder bei einigen wenigen Jesustexten offenbar der griech. Text in einer Klammer fehlt (93, 302, 309 hebr., 324, 329), das sind Wünsche auf hohem Niveau. Nicht sofort einsichtig sind die in eckigen Klammern im Haupttext eingefügten Verweise auf die Exkurse, denn sie sind allein mit einer Zahl und erst noch in Schreibweise „[01]“ usw. angegeben. Aber das alles kann zusammen mit einigen wenigen Druckfehlern in der 2. Aufl. leicht verbessert werden. Denn das Buch sollten Studierende, Pfarrer und Pastoren, und bibellesende Jesusnachfolger auf jeden Fall anschaffen. Aber auch an der Person Jesus Interessierte Skeptiker finden hier verlässliche, historisch-wissenschaftliche Informationen und dazu genügend Anregung und Stoff zum Nachdenken über den bis heute im Raum stehenden Anspruch des Jesus von Nazareth.


Pfr. Dr. Jürg Buchegger-Müller