Systematische Theologie

Hamed Abdel-Samad: Integration

Hamed Abdel-Samad: Integration. Ein Protokoll des Scheiterns,München: Droemer, 2018, geb., 271 S., € 19,99, ISBN 978-3-426-27739-3


Der Titel des Buches provoziert. „Integration“ ist in aller Munde. Der Untertitel fordert heraus und ist meines Erachtens irreführend. Der Untertitel mag suggerieren, dass Abdel-Samad „Integration“ für gescheitert erklärt. In der Tat verfolgt er schonungslos die Spur dessen, was er in der Einführung „Das Märchen von der gelungenen Integration“ (11–25) nennt. Dabei stellt er vor allem heraus, dass Integration sich nicht auf die Gebiete „Bildung, Sprache und Arbeit“ reduzieren lässt. Er spricht von vier verschiedenen Feldern: „strukturelle Integration, kulturelle Integration, soziale Integration sowie emotional-affektive beziehungsweise identifikative Integration.“ Er betont: „Wer nur die Erfolge auf dem ersten Feld preist und von gelungener Integration spricht, erzählt den Menschen in diesem Land ein Märchen. Nur wenn Erfolge auf allen vier Gebieten verzeichnet werden können, ist eine Integration wirklich gelungen“ (21). Diese Spur zieht sich recht konsequent durch das Buch. Entlang dieser Linie wirft Abdel-Samad viele wichtige Fragen auf, über die es sich lohnt nachzudenken. Es sind vielfach Fragen, an denen wir als Gesellschaft nicht vorbeikommen. Viele Fragen lassen sich schon an den Überschriften (und Untertitel) der einzelnen Kapitel ablesen: „Wie ist es wirklich um die Integration bestellt? Forschung und gefühlte Wahrheit“ (27–39); „Migrationshintergrund oder Migrationsvordergrund? Die Geschichte meiner Integration“ (40–59); „Migration damals und heute. Ein kurzer Blick zurück“ (60–66); „Was ist schiefgelaufen? Von Sünden, Wendepunkten und Rückschlägen in der Integrationsgeschichte“ (67–94); „No-go-Areas und totale Kontrolle. Wie ‚Ghettos‘ und ‚gated communities‘ Integration verhindern“ (95–118); „Das Kopftuch. Symbol der Unterdrückung oder der Selbstermächtigung?“ (119–134); „‚Kulturelle Kompatibilität‘ und Bildung. Warum manche Migrantengruppen besser integriert sind als andere“ (135–158); „Die ‚Generation Allah‘ und das Schweigen der anderen. Warum junge Muslime sich radikalisieren“ (159–179); „Orient und Okzident. Antithese mit Tradition“ (180–193); „Synthese bedeutet nicht Burkini. Warum manche Werte nicht verhandelbar sein sollten“ (194–209) und „Flüchtlinge. Bremser oder Motoren einer gelungenen Integration?“ (210–233).

Abdel-Samad wirft Fragen, über die es sich lohnt als Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen ins Gespräch zu kommen. Man muss schließlich mit Ayn Rand schlicht festhalten: „Man kann die Realität ignorieren, aber man kann nicht die Konsequenzen der ignorierten Realität ignorieren“ (5). Deswegen muss man Abdel-Samads Überzeugungen nicht teilen, um aufmerksam hinzuhören. Man muss seine Antworten nicht lieben, um seine (An-)Fragen wertzuschätzen. Einige seiner Antworten wirken plakativ und sind mir zu stark von einem Schwarz-Weiß-Denken geprägt, was sich nicht zuletzt auf seinen abschließenden Seiten ausdrückt: „Ein Blick in die Zukunft. Die Utopie. Die Dystopie“ (262–267). Aber seine Antworten schaffen an manchen Stellen auch eine wertvolle Klarheit. Wenn er beispielsweise sagt: „Deutschland verändert sich. Einen Weg zurück gibt es nicht“ (253), dann ist das m. E. nicht nur in seiner Klarheit richtig und wertvoll, sondern in meiner Wahrnehmung noch immer nicht ausreichend in unserer Gesellschaft angekommen. Einen Platz am Tisch müssen Abdel-Samads Antworten haben, damit wir die Herausforderung „Integration“ als Gesellschaft konstruktiv und differenziert, aber vor allem mit klaren Perspektiven und einem langen Atem angehen. Ein langer Atem ist vielleicht das wichtigste. Da liegt vielleicht auch ein großes Problem in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Effektivität und schnelle Ergebnisse einen hohen Stellenwert haben.

Es ist bemerkenswert, dass Abdel-Samad das Projekt „Integration“ nicht grundsätzlich für gescheitert erklärt, auch wenn das der Eindruck ist, der sich bei der Lektüre des Buches über weite Strecken einstellen mag. Mit seinem zwölften Kapitel „Integration ist möglich. Ein neuer Marshallplan für Deutschland“ (234–261) führt er Aspekte an, die er für wesentlich hält: „Die Schlüsselbegriffe für Integration sind also: Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ (234). Ein Zusammenwirken verschiedener Akteure ist notwendig. Abdel-Samad nennt den Staat, die Justiz, die Polizei, die Wirtschaft, die Schulen, die Zivilgesellschaft, die Linken, die Rechten, die Medien, die Islamverbände, die Kirchen, die Migrationsforschung und die Flüchtlinge (in dieser Reihenfolge). Die Reihenfolge und die damit verbundene Ausführlichkeit legt nahe, dass Abdel-Samad eine große Verantwortung beim Staat (er meint wohl vor allem die Legislative) und dann bei Judikative und Exekutive sieht. Die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft sind für ihn ein großes Problemfeld. Es kann und sollte gewissermaßen „von oben“ geregelt werden. Auf jeden Fall ist es bezeichnend, wie er seinen Appell im Rahmen des neuen Marshallplans beginnt: „Das Gewaltmonopol zurückholen: Bevor der Staat über konkrete Integrationsprojekte nachdenkt, muss er zuerst die Kontrolle in den No-go-Areas zurückgewinnen“ (237).

Mit seinem Appell an verschiedene Akteure unserer Gesellschaft veranschaulicht er auch einen wichtigen Gedanken. In der Rede von Integration muss klar werden, was von den verschiedenen Generationen erwartet wird und erwartet werden muss / kann. Schließlich wird nicht alles gleichermaßen für alle Generation nach der Einwanderung gelten. Integration ist eine Frage von Jahren, m. E. von Generationen. Die Einstellung bzw. Haltung der einwandernden Generation zu den Veränderungsprozessen ist ein weichenstellender Faktor, dem nicht nur sie selbst, sondern vor allem ihre Kinder unterworfen sind. Kurzum, unterstützen sie eine fortschreitende Integration und die damit verbundenen Veränderungen bzw. geben sie ihren Kindern dabei die Freiheit, diesen Weg für sich zu gestalten? Oder, von der anderen Seite betrachtet, wie viel erwartet die Mehrheitsgesellschaft von den einzelnen Generationen und welche Hilfe bietet sie ihnen jeweils an?


Heiko Wenzel, Ph. D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen