Systematische Theologie

Hamed Abdel-Samad / Mouhanad Khorchide: Ist der Islam noch zu retten?

Hamed Abdel-Samad / Mouhanad Khorchide: Ist der Islam noch zu retten? Eine Streitschrift in 95 Thesen, München: Droemer, 2017, geb., 303 S., € 19,99, ISBN 978-3-426-27734-8


Der Titel „Ist der Islam noch zu retten?“ ist eine Einladung an alle Leser, eine Einladung, sich dieser Frage zu stellen und vor allem darüber nachzudenken, welche Rolle der Islam und Muslime in unserer (westlichen) Welt spielen können und sollen. Muslime sind Teil unserer Gesellschaft und deswegen spielt der Islam eine Rolle. Diese Rolle wird aber heiß diskutiert und nimmt immer wieder Raum in unseren Medien und in unserem Denken ein, die vor allem vom Islam als einem Problem ausgehen. Hier setzt das Buch mit seinen grundlegenden Fragen der beiden Verfasser an. Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad und der österreichische islamische Religionspädagoge Mouhanad Khorchide sind dafür bekannt, dass sie sich mit dem Islam auseinandersetzen und gewaltbereiten Muslimen mit ihren Büchern entgegenstellen.

Vor den Augen der Leser entfaltet sich ein Gespräch, das nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Verfasser sichtbar werden lässt. Vielmehr werden in ihrem Dissens und Konsens Fragen identifiziert, die unentbehrlich für die Behandlung des Themas sind, unter anderem nach dem Umgang mit widersprüchlichen Aussagen des Korans, vor allem der Verhältnisbestimmung von Versen, die zum Frieden, und anderen, die zur Gewalt aufrufen: „Verstehen Sie, lieber Hamed, warum ich ein so großes Problem mit ihrer Lesart des Korans habe? Sie ist genau dieselbe, gegen die ich bei Fundamentalisten vorgehe. Wenn Sie einzelne Verse zitieren, ignorieren Sie die vielen anderen, die etwas anderes sagen …“ (83).

Diese Fragen werden m. E. von zwei grundlegenden Perspektiven getragen, die an den Fragen „Was ist Islam?“ und „Wer ist Gott?“ veranschaulicht werden können. Abdel-Samad sieht einen Geburtsfehler des Islam darin, dass Muhammad viele Macht- und Leitungspositionen in sich vereinigte (19). Für Khorchide ist Islam „eine Einladung, sein Leben in Freiheit auf Gott als Quell der Liebe und Barmherzigkeit hin auszurichten“ (33). Abdel-Samad scheint der Frage nach Gott in gewisser Weise auszuweichen und betont immer wieder, dass eine wörtliche Auslegung des Korans zu untragbaren Antworten auf diese Fragen führt. Khorchide geht von der Quantität der Rede über Gottes Barmherzigkeit im Koran aus, nimmt dies als Maßstab und Orientierung für die Verhältnisbestimmung zu anderen Aussagen im Koran ohne das in dem vorliegenden Buch im Detail zu begründen. Hierfür kann sicherlich auf seine Bücher Islam ist Barmherzigkeit und Gott glaubt an den Menschen verwiesen werden. Das wäre aber zu einfach. Schließlich muss sich diese Überzeugung gerade im Gespräch bewähren.

Der Titel ist eine Provokation für viele (westliche) Nicht-Muslime und sicherlich auch eine Herausforderung für manche Muslime. Wenn man den Islam vor allem als Gefahr – oder wenigstens als Herausforderung – für die (westliche) Welt ansieht, mag man sich schon fragen, warum die Frage von Bedeutung ist. Wenn es den Islam nicht mehr gibt, dann haben wir ein Problem weniger, mag man lapidar denken. Die Stärke des Islam und die Zunahme islamischer Bevölkerung weltweit und auch in westlichen Gesellschaften legt aber m. E. nicht nahe, dass der Islam in Gefahr steht unterzugehen. Wenn, dann ginge es wohl eher um die Frage, ob die westliche Welt noch zu retten ist. Auf diesem Hintergrund provoziert der Titel des Buches wohl erst recht und fordert die Leser heraus, sich in die Schuhe von Muslimen zu begeben, die Welt mit ihren Augen zu sehen (was im Buch durch die beiden Verfasser in ihrer Verschiedenheit gut gelingen kann, auch wenn keiner der beiden wohl eine Mehrheit der Muslime repräsentieren wird) und sich dieser Frage zu stellen (ob man sie jemals für sich gestellt hätte oder nicht). Für Muslime ist der Gedanke der Gefährdung des Islam wohl viel vertrauter. Man mag sagen, dass dieser Gedanke mehr oder minder unterschwellig viele Muslime seit einigen Jahrhunderten beschäftigt. Verschiedene Reformbestrebungen und nicht zuletzt die radikalen Entwürfe und Lebenskonzepte der vergangenen Jahrzehnte können immer mit diesem Gedanken in Verbindung gebracht werden. Der Titel des Buches bleibt eine Herausforderung für Muslime, wenn man die beiden Autoren diese Frage verhandeln sieht. Ihre Verortung garantiert keinesfalls, dass die beiden gehört werden und ihre Gemeinsamkeiten (bei aller Verschiedenheit) befördern es auch nicht.

Eine grundlegende Herausforderung ist dabei von weichenstellender Bedeutung und markiert eine wesentliche Gemeinsamkeit der beiden Verfasser: sie verhandeln diese Frage auf dem Hintergrund und im Kontext von westlichen Gesellschaften. Vielleicht ist das unterschwellige Thema deswegen etwas verdeckt, aber gerade durch die Gemeinsamkeiten der beiden Verfasser recht offensichtlich, eher die Frage nach einer Existenz oder der Möglichkeit eines „europäischen“ Islams, also der Frage, wie ein Muslim in einer westlichen Welt intellektuell und ethisch redlich leben kann. Abdel-Samad und Khorchide leben und wirken in der islamischen Diaspora. Sie sind gewissermaßen Stimmen am Rande. Diese Randstellung bringt mit sich, dass keiner der beiden wohl für eine Mehrheit der Muslime in unserem Land und wohl noch weniger für Muslime weltweit sprechen kann. Dennoch beanspruchen sie eine Deutungshoheit für das, was „der Islam“ und damit verbunden „die Muslime“ auf diesem Planeten tun und was sie besser lassen sollten.

Angesichts dieser Randstellung ist es mehr als verständlich, dass Gemeinsamkeiten nicht diskutiert werden; schließlich liegt genug Differenz und Konfliktpotential in ihrem Austausch. Da ist man schnell geneigt, den gemeinsamen Boden, auf dem man steht, nicht auch noch zu hinterfragen. Deswegen würde ich diese Beobachtung ungern als grundlegende Kritik verstanden wissen. Vielmehr geht es mir darum, dass man das vorliegende Buch nach einer Wahrnehmung wichtiger Positionen, zentraler Fragen und weichenstellenden Voraussetzungen auch als Einladung liest, über manche Voraussetzung einer westlichen Wahrnehmung und Deutung von Islam und Muslimen nachzudenken.

Meine Verortung von Abdel-Samad und Khorchide am Rande einer (inner-) islamischen Diskussion ist nicht abwertend zu verstehen. Menschen am Rande sehen die Dinge oft klarer, als diejenigen, die mittendrin sind, sich in der Mitte von Diskurs, Macht und Entscheidung wähnen oder als solche wahrgenommen werden. In dieser Hinsicht sind die beiden Verfasser in einer gewissermaßen privilegierten Position, die gestellte Frage zu verhandeln. Alleine deswegen lohnt sich die Lektüre des Buches. Ihre persönliche Verortung und ihre Auseinandersetzung mit islamischem Establishment lassen bedeutsame Themen für die innerislamische Diskussion aber auch für die Wahrnehmung des Islams von außen und der Begegnung mit Muslimen in einer wünschenswerten Klarheit erstrahlen.

Die beiden Verfasser sind sich unter anderem darin einig, dass man den Koran historisch verorten muss, auch wenn sich die konkrete Ausgestaltung dessen, was damit einhergeht, in ihrer Herangehensweise recht verschieden ausgestaltet. Diese Forderung ist sehr naheliegend. Man muss eigentlich über die Selbstverständlichkeit dieser Forderung stolpern, aber das geschieht in diesem Buch nicht.

Die beiden Verfasser scheinen sich auch in einer einfachen Gleichung einig zu sein, dass eine historische Verortung koranische Aussagen zu ihrer notwendigen Relativierung führt. Abdel-Samad ist da sicherlich etwas großzügiger und ist bereit einige Koranaussagen mehr, bzw. mehr vom überkommenen Islam „im Mülleimer der Geschichte zu entsorgen“ als Khorchide. Bei letzterem geht es vielleicht weniger um ein Entsorgen als um die „Domestizierung“ einer Religion im Rahmen eines größeren Programms. Dieses Programm ist keineswegs nur ein gesellschaftlich-politisches mit dem Ziel, dass Muslime friedliebend im Westen leben können, sondern durchaus auch ein religiös-theologisches: „Religionen sind nur Wege zu Gott, sie selbst sind nicht das angestrebte Ziel, deshalb macht es keinen Sinn über die richtige Religion zu streiten. Die viel wichtigere Frage betrifft unser Gottesverständnis. Von welchem Gottesbild reden wir, wenn wir von Gott sprechen?“ (100). Das klingt für westliche Ohren sehr vertraut. Für die meisten islamischen Ohren wohl nicht.


Heiko Wenzel, Ph. D. (Wheaton College), Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen