Sven Grosse (Hg.): Schleiermacher kontrovers
Sven Grosse (Hg.): Schleiermacher kontrovers, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2019, Pb., 196 S., € 34,–, ISBN 978-3-374-05975-1
„Schleiermacher kontrovers“, ein passender Titel für diesen Sammelband, der bewusst ein „gepflegtes Streitgespräch“ (7) unter sechs theologisch und philosophisch Gelehrten präsentieren will. Schleiermachers Ansehen, Werk und Wirkung sind im Laufe der letzten 250 Jahre unterschiedlich bewertet worden. Die Urteile über ihn zwischen „Bewunderung und Zustimmung“ und „Abneigung und Verwerfung“ fielen schon immer kontrovers aus. Das (unterschwellige) Anliegen des Herausgebers der in diesem Sammelband vorgelegten Aufsätze ist es, herauszufinden, inwiefern Schleiermachers (gegenwärtig erneuerte) „herrschende Stellung“ für „Theologie und Kirche“ eher förderlich oder eher nicht förderlich ist (vgl. 7f; vgl. Grosses Frage in seinem Beitrag ab 83ff). Die Beiträge sind ausdrücklich zur Orientierung gedacht, nicht als spezielle Beiträge zur Schleiermacherforschung (8).
Hier fällt nun – zumindest von der Konzeption her – auf, dass ein echtes „Streitgespräch“ oder eine klassische (akademische) Disputation im Für und Wider von bekannten Thesenreihen (theologischen Aussagen) nicht vorliegt. In diesem beabsichtigten Sinne sind die Beiträge in dem Sammelband nicht zu verstehen, da die Autoren mit ihren Beiträgen nicht mit- oder untereinander über Schleiermachers Werk oder dessen Einzelpositionen disputieren. Jeder Aufsatz ist ja unabhängig voneinander entstanden und erst bei der Drucklegung in die bereits vorher bekannten Kategorien „Pro Schleiermacher“ oder „Contra Schleiermacher“ eingeordnet worden. Ein echtes Streitgespräch oder eine Disputation liegt also nicht vor. Konzeptionell wäre daher wahrscheinlich das im Angelsächsischen bekannte akademische Verfahren in Buchform „Four Views on …“ ertragreicher gewesen, um in Aufsätzen durch direkte Erwiderungen der Autoren untereinander Schleiermachers Theologie und Werk auszuloten und zu würdigen.
Zu den beiden Kategorien Pro und Contra Schleiermacher zählen je drei Gelehrte unterschiedlicher konfessioneller Herkunft, beruflich alle im Dienst einer Hochschule oder Universität aktiv. Notger Slenczka, Heinrich Assel und Vasile Hristea zählen zur „Pro Schleiermacher-Fraktion“, Sven Grosse, Harald Seubert und Daniel von Wachter zur „Contra-Fraktion“. Im Sinne eines tatsächlichen Streitgesprächs – würde man beide Aufsätze bzw. die beiden Autoren nebeneinandersetzen – fallen die Beiträge von Slenczka „Schleiermacher heute“ und Grosse „Gehört Schleiermacher in den Kanon christlicher Theologen?“ besonders auf. Diese beiden Reflektionen verdeutlichen sehr gut die markante Kontroverse, die im Blick auf Schleiermachers Person und Werk existiert.
Notger Slenczkas sehr gelehrter und kenntnisreicher Beitrag (15–39) ist im Grunde dadurch motiviert, dass er eine erneute Besinnung auf Schleiermachers Denken ausdrücklich befürwortet, weil dieser sehr gut geeignet sei, fixierte Dogmen zu reformulieren „als Antwort für Problemstellungen der Gegenwart“ (15). Sein Plädoyer zielt bewusst auf diese (notwendige) „Reformulierung fixierter Dogmen“ (15) ab, wie er im Aufsatz an exemplarischen Thesen Schleiermachers zu verdeutlichen sucht. Nachdem Slenczka dem seiner Meinung nach unberechtigten Vorwurf des „theologischen Subjektivismus“ bei Schleiermacher konstruktiv entgegengetreten ist (16f), entfaltet er gemäß seiner Beobachtung der „Reformulierung“, dass Schleiermachers Glaubenslehre nichts anderes als „christozentrisch“ genannt werden dürfe (18–25). In einem zweiten Schritt wird dann entfaltet, wie von Gott und seinem Wesen (Existenz) zu sprechen sein kann, ohne ihn zum Gegenstand zu machen (25–38). In seinen Schlussfolgerungen betont Slenczka ausdrücklich, dass mit der begründet dargelegten Entfaltungen der exemplarischen Lehren Schleiermachers (Christologie, Gottes Existenz usw.) keine „neuzeitliche Verkehrung der Tradition“ vorliege (38f), sondern lediglich eine für die Gegenwart notwendigerweise reformulierte Wiederholung der ursprünglichen christlichen Tradition. Selbst „die Mitte des christlichen Glaubens“ durch die Rede von Jesus Christus als dem, der die Gottesbeziehung erschließt und heilt (Erlösung, Neubestimmung Gottes in Jesus Christus usw.) würden nicht aufgehoben, sondern ausdrücklich bestätigt (39), eben, „dass Gott uns unmittelbar angeht“.
Sven Grosse nun stellt provokant (beinahe absichtlich?) die Frage, die viele kritische Schleiermacher-Rezipienten ohne mit der Wimper zu zucken mit „Nein“ beantworten würden: „Gehört Schleiermacher in den Kanon christlicher Theologen?“ (83–118). Hier geht es also – wie in klassischen Streitgesprächen der Vergangenheit – um die Dimensionen der Rechtgläubigkeit (Kanon, 84f, Anm. 207) versus Häresie. Dabei nennt Grosse auch die Parameter, an denen er diese Streitfrage zu beantworten gedenkt: „Es soll sich zeigen, ob Schleiermacher mit diesen [klassisch rechtgläubigen, Anm. d. Verf.] Theologen in einem Kanon der Theologie hineingehört oder nicht. … Sobald man die Begründbarkeit durch die Bibel und, bezogen darauf, die Übereinstimmung mit dieser klassischen Tradition, als Kriterium der Wahrheit ansieht, entscheidet sich daran auch, ob Schleiermacher die Wahrheit lehrt“ (85). Somit liegen die Karten alle auf dem Tisch.
Nachdem Grosse sich Schleiermachers Erlösungsvorstellung (86–88), dessen Verständnis einer Häresie (88–92), dessen Christologie (92f), das Kreuzesverständnis (94–98), die Trinitätslehre (98–100), Auferstehungs- und Himmelfahrtsvorstellungen (100f), dessen Bibelverständnis (101), das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl (102–104 und dessen Wahrheitsverständnis (104f) angeschaut hat, kommt er zu dem Fazit, dass Schleiermacher nicht in den (rechtgläubigen) Kanon der konfessionell aufgefächerten, klassisch-christlichen Tradition hineingehöre (105, 107 u. ö.). Grosse resümiert: „Die Ausarbeitung der biblischen Darlegung hat in der klassischen Tradition zu durchgehend anderen Ergebnissen geführt als zu dem, was Schleiermacher lehrt“ (105). Er folgt in seinem Urteil zum Teil Karl Barth (106).
Grosse erwidert nun noch unter „Schleiermachers Motive“ (108–112) auf die Überlegungen, dass man zugunsten von Schleiermacher behaupten könne, er habe die „alte Dogmatik“ zeitgemäß an die neuen Umstände (seiner Zeit) sprachlich angepasst bzw. umgeformt, sei aber bei den klassisch-christlichen Inhalten geblieben (Prinzip der Entwicklung, E. Troeltsch, 108). Grosse überzeugen diese Auffassungen einer zeitgemäß notwendigen „Umformung“ nicht (u. a. gegen U. Barths Anpassungsdruck, 111). „Schleiermacher verteidigt das Christentum … so, dass es ihm unter den Händen verschwindet“ (110). Das bedeutet für Grosse nichts anderes als „Entchristlichung“ (111) oder, dass bei Schleiermacher „Kirche nicht mehr vorhanden“ sei (118).
Im letzten Kapitel des Aufsatzes beschreibt Grosse nun noch „Aufgaben für die künftige Theologie“ (112–118). Darin skizziert er, wie ein anderer Weg im Sinne der klassischen Theologie gegangen werden könne, um den Herausforderungen des christlichen Glaubens in der Gegenwart zu genügen (praeambula fidei), die eben ganz und gar nicht der Umformung in Sinne von Schleiermachers „Christentumstheorie“ (111) entsprechen dürfe.
Mit Slenczkas und Grosses konträren Beiträgen sind im Grund die gegenüberliegenden Pole der Schleiermacherkontroverse exemplarisch erfasst: (A) Schleiermacher hat die klassisch-christliche Tradition an die neuzeitlichen Bedingungen angepasst und christliche Inhalte lediglich reformuliert, und doch beibehalten. Oder: (B) Schleiermacher hat den Boden der klassisch-christlichen Tradition verlassen und ist damit der Häresie zuzuordnen.
Die vier anderen Beiträge des Sammelbandes sind ebenfalls spannend zu lesen, erfassen sie doch interessante Einzelkomponenten in der Wahrnehmung und Deutung von Schleiermachers theologischem Schaffen. Heinrich Assel erörtert Schleiermachers Darstellungstheorie am Beispiel des Abendmahls in Abgrenzung gegen Hegels Missverständnis. Vasile Hristea diskutiert Schleiermachers Bildungstheorie samt ihrer Gegenwartsrelevanz, die „sich nicht anders als kulturell auswirken“ kann (68). Beide „Pro Schleiermacher-Autoren“ befürworten im Grunde das genannte Paradigma, dass Schleiermacher als Reformulierer christlicher Traditionen für die Gegenwart anzuerkennen und anzuwenden sei.
Harald Seubert aus der „Contra-Schleiermacher-Fraktion“ liefert einen lehrreichen, umfassenden und gründlichen Diskurs (119–158), um „Schleiermacher im Kontext“ der „klassische(n) deutschen Philosophie nach Kant“ (119) zu erfassen. Daniel von Wachter entfaltet eindrucksvoll seine Beobachtungen, dass Schleiermachers Religion letztlich „keine erstrebenswerte oder rationale Option“ anbiete (181).
Ein nützliches Literaturverzeichnis (183–193) runden die Aufsatzsammlung ab. Der Sammelband ist allen, die privat für sich oder akademisch Theologie studieren oder die in einer Gemeindeleitungsfunktion stehen, zur Lektüre empfohlen. Jeder der sechs Beiträge – teilweise denkerisch anspruchsvoll – liefert eine gute und notwendige Orientierung, die zum Einstieg in die theologische Denkwelt Schleiermachers geeignet ist und zur eigenen Urteilsbildung einlädt.
Dr. Berthold Schwarz, Hochschuldozent für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen