Systematische Theologie

Manuel Schmid: Gott ist ein Abenteurer

Manuel Schmid: Gott ist ein Abenteurer. Der Offene Theismus und die Herausforderungen biblischer Gottesrede, Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 167, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, geb., 279 S., € 79,99, ISBN 978-3-525-55669-6


Manuel Schmid ist Pastor der ICF-Gemeinde Basel und mit dieser Arbeit an der Universität Basel promoviert worden. Gegenstand des Buches, das ausweislich des Vorwortes nur einen Teil der Ergebnisse seiner Untersuchung enthält, ist eine „bibeltheologische Herleitung“ des Offenen Theismus (im Folgenden abgekürzt OT), einer in den USA als Reaktion auf den (erstarkenden) Calvinismus entstandene und v. a. dort verbreiteten Richtung innerhalb des Evangelikalismus. In vier Hauptkapiteln möchte der Vf. den OT als „bibeltheologische Reformbewegung“ vorstellen (54) und dabei deren maßgebliche biblisch-theologische Begründungszusammenhänge freilegen, die dann mit Überlegungen zeitgenössischer systematischer Theologen im deutschsprachigen Raum ins Gespräch gebracht werden.

Im ersten, dem Einleitungskapitel wird der OT als eine „bibeltheologische Reformbewegung“ innerhalb des US-amerikanischen Evangelikalismus charakterisiert. Als wiederkehrendes biographisches Muster wird identifiziert, dass die wichtigsten Vertreter des US-amerikanischen OT durch einen arminianischen bzw. methodistischen Hintergrund geprägt wurden, in den evangelikalen Bildungseinrichtungen jedoch einen konservativen Calvinismus als dominant erlebten, von dem sie sich abzugrenzen suchten. Als Leitthese des Buches lässt sich die Aussage verstehen, dass die thematische Mitte des OT in der „Wesensbestimmung Gottes als Liebe“ (38) zu finden ist, womit sich der OT von theologischen Konzepten abgrenzt, die die Gotteslehre nicht vom Strukturprinzip der Liebe aus organisieren. Allerdings wird diese These erst in Kap. 4 explizit diskutiert. Der forschungsgeschichtliche Überblick in Kap. 1 zeigt, dass der OT im deutschsprachigen Raum überwiegend von römisch-katholischen Religionsphilosophen (wie z. B. Armin Kreiner) positiv rezipiert worden ist. Doch wäre zu ergänzen, dass es inzwischen auch in der ev. Theologie ein erwachendes Interesse gibt, wie die 2018 erschienene Dissertation von Lisanne Teuchert zur Vorsehungslehre u. a. im OT belegt, die nicht erwähnt wird.

Das zweiten Kapitel hat einen exegetischen Schwerpunkt. Hier zeigt der Vf., dass die Vertreter des OT bei solchen biblischen Texten (überwiegend aus dem Alten Testament) ansetzen, in denen davon die Rede ist, dass Gott abwartet, wie Menschen sich entscheiden werden, Gott sich enttäuscht zeigt oder ihn sein Handeln reut. Als stärkster Ausdruck für die Offenheit Gottes werden solche Aussagen gesehen, denen zufolge Gott seinen Sinn „ändert in Reaktion auf geschichtliche Ereignisse“ (Zitat von G. Boyd, 71). Die von den Kritikern des OT vorgebrachten Gegentexte werden dahingehend interpretiert, dass sie mit der Lesart eines umfassenden Vorherwissens Gottes zwar vereinbar seien, diese aber nicht erforderten. Texte, die von einem feststehenden zukünftigen Handeln Gottes sprechen (z. B. Jes 40–48) werden dem Vf. zufolge so verstanden, dass Gott in seltenen Fällen doch einseitig lenkend in die Geschichte eingreife. Das für den OT Unbehagliche daran sei, dass Gott dafür die menschliche Willensfreiheit einschränken müsse.

Im umfangreichen dritten Kapitel werden die die Bibelauslegung im OT leitenden hermeneutischen Grundentscheidungen untersucht, wobei sich die Analyse auf zwei Problemfelder konzentriert: Zum einen richtet sich das Augenmerkt auf die die v. a. von Harnack begründete Auffassung, wonach das biblische Evangelium durch griechisch-philosophische Einflüsse verzerrt worden sei („Hellenisierungsthese“), die im OT auch gegen Kritik (z. B. von Paul Gavrilyuk) verteidigt worden ist. Differenziert legt der Vf. sodann die Diskussion um die anthropomorphe als „uneigentliche“ Rede von Gott dar. Der OT kritisiert, dass seine Kritiker die Rede z. B. von der Reue Gottes als „uneigentliche“ Rede bezeichneten und damit in ihrer Aussagequalität herabstuften. Wenn nun aber innerhalb des OT manche Aussagen, wie v. a. die zur Körperlichkeit Gottes, auch als (nur) anthropomorph bezeichnet werden, dann würde damit, so der Vf., lediglich die Grenze zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede von Gott verschoben, die damit verbundene hermeneutische Problematik aber nicht gelöst. In seiner Diskussion beider Problemkreise lässt der Vf. seine Kritik am „Essentialismus“ erkennen: Von Verzerrungen des Evangeliums könne nur dann die Rede sein, wenn sich das Wesen des Evangeliums anhand eines nicht den Bedingtheiten der Geschichte unterliegenden Maßstabs von den Verzerrungen unterscheiden lasse, was aber dem Menschen nicht möglich sei. Hinsichtlich der anthropomorphen Rede von Gott bedarf es dem Vf. zufolge einer „neuen Konzeptualisierung der christlichen Gotteslehre“ (152), was besonders an biblischen Aussagen zur Menschengestalt Gottes deutlich werde. Der Vf. hält die Vertreter des OT für hermeneutisch inkonsequent, wenn sie die Vorstellung von einem Körper Gottes zurückwiesen. Die Ausführungen dazu (152ff) wirken unfertig. So wird nicht klar, ob der Vf. biblisch bezeugte körperliche Erscheinungsformen (vgl. Gen 18) als Aussagen über eine Körperlichkeit Gottes liest, und wenn ja, was dies theologisch zu bedeuten hätte. Die für diese Diskussion einschlägige Monographie von Christoph Markschies: Gottes Körper (2016), bleibt demgegenüber unberücksichtigt, obwohl dieser in seiner historisch angelegten Untersuchung darauf hinweist, dass hier Fragen zur Diskussion stehen, die ohne Bezug auf die Inkarnation Gottes in Jesus Christus nicht entschieden werden können. Im Blick auf die Kritik des Vf. am Essentialismus irritiert zudem, dass der Vf. sehr wohl daran festhält, dass Gott seiner Natur bzw. seinem Wesen nach Liebe sei, was mindestens essentialistisch klingt und daher erläutert werden müsste.

Das vierte Kapitel dürfte als das Herzstück der Arbeit zu bezeichnen sein, wird hier doch die Ausgangsthese entfaltet, wonach es dem OT um die „Wiederentdeckung der Liebe Gottes als die konstitutive Mitte einer christlichen Gotteslehre“ geht (178). Sie wird nun dahingehend konkretisiert, dass den Vertretern des OT zufolge die metaphysischen im Licht der moralischen Eigenschaften Gottes zu interpretieren und als Implikate der Liebe Gottes auszuweisen sind: So Gottes Allwissenheit als „unübertreffliche Weisheit“ (159), Gottes Allmacht als seine „freisetzende Kraft“ und Gottes Unveränderlichkeit als seine „bewegliche Treue“. Deutlich wird: Diesen an einem dynamischen und relationalen Verständnis von Gott orientierten Interpretationen liegt ein Verständnis von der Zeitlichkeit Gottes voraus, mit dem sich der OT von der Auffassung abgrenzt, der ewige Gott sei als der Zeit enthoben zu denken. Nicht die Allwissenheit werde vom OT in Abrede gestellt, sondern der Modus seiner Allwissenheit präzisiert: Gott habe ein vollkommenes Wissen von der Faktizität der Vergangenheit und Gegenwart sowie von den Möglichkeiten der noch offenen Zukunft. Die Zukunft werde von Gott somit als (offene) Zukunft gewusst. Der Titel des Buches klingt an, wenn G. Boyd zitiert wird, demzufolge es keine Schwäche, sondern die Stärke Gottes sei, die Zukunft nicht lückenlos zu beherrschen: „Gott ist sich seiner Einflussmöglichkeiten gewiss genug, um das Risiko dieser Welt eingehen zu können, ohne die Erreichung seiner Schöpfungsziele anzweifeln zu müssen“ (168). Im Zentrum der Diskussion um Gottes Eigenschaften steht jedoch seine Unveränderlichkeit. Es gelingt dem Vf. zu zeigen, dass der OT Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit Gottes miteinander zu verbinden sucht: Wandelbar sei, „was Gott erfährt, nicht aber, wer Gott ist“ (173). Das wiederum ließe sich nur aussagen, wenn Gott seinem Wesen nach Liebe ist. Weil jedoch auch von reformierten Theologen nicht in Abrede gestellt werde, dass Gott sich in seinem Eingehen auf die Welt bzw. die Menschen den sich ändernden Gegebenheit anpasst (akkomodiert), gelangt der Vf. zu der Feststellung, dass der hauptsächliche Unterschied zwischen Vertretern und Kritikern des OT „in der Frage nach dem Verhältnis Gottes zur Zeit“ besteht (176). Dass die damit als grundlegend wichtig ausgewiesene Bestimmung von Gottes Verhältnis zur Zeit überhaupt nicht bearbeitet wird, mag dem bibeltheologischen Fokus der Arbeit geschuldet sein, bleibt aber unbefriedigend, wenn der Rekurs auf die philosophische Gotteslehre für die Aufhellung der Konturen des OT letztlich doch erforderlich ist.

Ebenfalls im vierten Kapitel schlägt der Vf. den Bogen zur deutschsprachigen systematisch-theologischen Diskussion. Der Durchgang durch die Entwürfe von E. Brunner, K. Barth, J. Moltmann und W. Pannenberg hat zum Ziel, das unzureichende theologische Problembewusstsein der Vertreter des OT aufzuweisen. Kritisch weist der Vf. darauf hin, dass beim OT (1) das Verhältnis der verschiedenen Eigenschaften Gottes untereinander ungeklärt bleibt, (2) das Verhältnis der Eigenschaften zur Trinität Gottes unterbestimmt ist, (3) der explizit christologische Bezug zu kurz kommt und (4) die Einbettung der Rede von den Eigenschaften Gottes in die biblisch bezeugte Gottesrede insgesamt unterkomplex bleibt. Man könnte es noch deutlicher formulieren: Wie schon anderen im US-amerikanischen Bereich virulente Debatten zwischen Evangelikalen fehlt auch der Auseinandersetzung um den OT eine überzeugende systematisch-theologische Formatierung.

In dem das Buch beschließenden Kapitel plädiert der Vf. dafür, dem theologischen Verunsicherungspotential sperriger und verstörender biblischer Texte zu erlauben, gewohnte und tradierte Auslegungen anzufechten. Das dabei aufbrechende Problem, ob von einer die Vielfalt des biblischen Zeugnisses integrierenden Einheit oder eine diese Einheit zerreißenden Polyphonie der biblischen Texte ausgegangen werden müsse, wird unter Bezugnahme auf die Exegeten W. Brueggemann und M. Theobald breit diskutiert, bevor der Vf. schließlich – bemerkenswert knapp und ohne nähere Begründung – mit H. Hempelmann für einen „die Einheit dieser Zeugnisse bildende Wirklichkeit als gemeinsame[n] Ausgangs- und Zielpunkt“ (234) des biblischen Zeugnisses plädiert. Das theologische Profil der Diskussion bleibt jedoch unscharf, wenn z. B. (wiederum ohne Wertung) mit Ingolf Dalferth ein Theologe zitiert wird, für den die jenseits der biblischen Schriften liegende Mitte – Jesus Christus – explizit zur Legitimierung theologischer Sachkritik dient (vgl. 235). So wird nicht recht deutlich, welche Richtung der Vf. der Infragestellung gewohnter Auslegungen geben möchte. Wenn Gewohntes nicht per se falsch ist, braucht es doch Kriterien, um die Angemessenheit von Auslegungen zu beurteilen.

Der (methodistische) Rezensent hält es ungeachtet seiner kritischen Einwendungen für einen großen Gewinn, dass sich hier ein versierter und quellenkundiger Theologe der Bewegung des OT angenommen hat. Bei aller Sympathie mit den hier untersuchten Vertretern des OT, denen er ausweislich des Vorwortes zum Teil auch persönlich verbunden ist, hält er eine kritische Distanz zum Gegenstand seiner Untersuchung. Die Stärke des Buches liegt in der umfassenden Literaturauswertung der Untersuchung. Plausibel wird gezeigt, dass der OT ein positives bibeltheologisches wie auch gemeindepraktisches Anliegen verfolgt. So ist dieses Buch als ein wichtiger Beitrag zur Erforschung und Einordnung des Offenen Theismus, seines Anliegens und seiner Relevanz für den innerevangelikalen Diskurs zu würdigen.


Prof. Dr. Christoph Raedel, Professor für Systematische Theologie und Theologiegeschichte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen