Werner Thiede (Hg.): Karl Barths Theologie der Krise heute
Werner Thiede (Hg.): Karl Barths Theologie der Krise heute. Transfer-Versuche zum 50. Todestag, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2018, Pb., 284 S., € 38,–, ISBN 978-3-374-05632-3
Der 2018 zum 50. Todestag Karl Barths von Werner Thiede herausgegebene Sammelband umfasst 14 Aufsätze deutschsprachiger Autoren zu unterschiedlichen Themengebieten der Theologie Barths. Dabei soll der Anspruch der Autoren der sein, einen Transfer zwischen Barths Theologie und der heutigen Situation anzustoßen. Dieses Anliegen scheint angesichts der immer noch bestehenden Aktualität Barth’scher Theologie lohnenswert. Dennoch kann hinterfragt werden, ob die Entwicklungen, auf die sich der Herausgeber in seinem Vorwort bezieht, namentlich die „wachsende Hingabe an künstliche Intelligenz“ und lethargische „Selbstpreisgabe angesichts digitaler Überwachungs- und rechtlicher sowie mentaler Entmündigungstrukturen“ (5), wirklich mit den Krisenphänomenen vergleichbar sind, die Barths Theologie entscheidend angestoßen haben, z. B. einem Weltkrieg mit mehreren Millionen Toten.
Auf dem hier begrenzten Raum können nicht alle Aufsätze besprochen, sondern lediglich einige Schlaglichter gesetzt werden. Der angestrebte Transferversuch gelingt in pointierter Weise dem Aufsatz von Harald Seubert, der zunächst einzelne Aspekte von Barths Krisis-Verständnis skizziert und diese jeweils in ihr Verhältnis zum Ausgangspunkt der Entstehung setzt. Dabei ist es ihm wichtig, auch die Spannungen und Schwierigkeiten zu beachten, die Barths spezieller Entwurf mit sich bringt. Kritisch zu hinterfragen ist allerdings die Bezeichnung von Christus als „Synthese“ der durch die Krisis hervorgerufenen Gegensätze, betont doch Barth immer wieder, dass die Krisis keinesfalls aufgelöst, sondern in Christus ausgehalten wird. Der Transfer wird unter Beachtung der Tatsache durchgeführt, dass „eine unmittelbare Aktualisierung von exemplarischen Positionen der Theologiegeschichte“ (25) vorsichtig geschehen sollte. Als besonders fruchtbar für die heutige Zeit hebt er den Ansatz der Krisis-Theologie hervor, weil er nicht in einer Polemik gegen den Zeitgeist stehenbleibt, sondern den Epochenumbruch – den er auch für heute zu sehen scheint – „auf die Gegenwart Gottes in seiner Offenbarung in Christus“ hin durchsichtig macht (26). Er schlägt zudem vor, polemisch aufgeladene Begriffe Barths zu versachlichen, da sie dann hilfreich sein könnten, um Problematiken der gegenwärtigen theologischen Lage zu bezeichnen.
Christoph Raedel befasst sich mit Barths Schriftverständnis und der Krise der historisch-kritischen Methode. Er stellt Barths Kritik an der historisch-kritischen Methode ebenso prägnant und verständlich dar, wie Barths vor allem in KD I/1 in großem Umfang ausgeführtes Schriftverständnis. Dabei verzichtet er nicht auf berechtigte, aber sehr sachlich vorgetragene Kritik. So hebt er z. B. mit 2Tim 3,16 gegen Barth hervor, dass hier von genau der Inspiriertheit ausgegangen werde, die Barth zurückweise (130f). Ebenso betont er, Gott habe sich in sein Wort entäußert und sich an dieses gebunden (132) und hebt hervor, dass die Fehlbarkeit menschlicher Autoren nicht zwangsläufig eine Fehlerhaftigkeit in ihrem Reden von Gott bedeute (133). Barths Schriftverständnis bleibe dennoch bedenkenswert für heutige Theologie, da er die Notwendigkeit einer vom Heiligen Geist bewegten Theologie und Auslegung ebenso betone, wie die Haltung, sich von der Schrift kritisieren zu lassen.
Hans Ulrich unternimmt den Versuch, Barths theologische Ethik in ihrer Konsistenz zu beschreiben, was ein nicht einfaches Unterfangen ist, weil, wie Ulrich selber bemerkt, Barths Ethik über verschiedene Bereiche seines Werkes entfaltet und daher schwierig zu fassen ist. Die Stärke seines Beitrags liegt u. a. darin, die ganz eigene Grammatik aufzuzeigen, der Barths Ethik folgt. Ulrich sieht auch deshalb in ihr einen in der evangelischen Theologiegeschichte einzigartigen Entwurf. In diesem Sinn zeigt er auf, dass Ethik nicht in einzelnen Handlungsanweisungen, sondern im Erkennen der „Wirklichkeit des handelnden Gottes“ besteht, die als eine „von Menschen zu lebende Wirklichkeit“ ihren Ausdruck findet (159). Für den angestrebten Transfer bleibt allerdings fraglich, ob es für praktisch-ethisches Handeln ausreicht, lediglich darauf zu verweisen, dass „das gelebte und zu lebende Ethos in Jesus Christus gegeben und realisiert erscheint“ und die Christusgeschichte im Zeugnis weitergelebt wird (172).
Ausdrücklich hervorgehoben werden soll der Beitrag des Barth-Kenners Wolf Krötke über die Taufe als Dienstantritt der Partnerinnern und Partner Gottes. Vor dem Hintergrund von Barths Tauflehre in KD IV/4 hinterfragt Krötke sehr scharfsinnig aktuelle Entwicklungen zur Taufe in der EKD, wo die Taufe in den Dienst menschlicher Bedürfnisse zur Verleihung göttlicher Kraft verwässert wird. Demgegenüber stellt er die Tauflehre Barths unter dem Aspekt der Mitwirkung des Menschen am Handeln Gottes dar, ohne dabei in ein katholisch geprägtes Verständnis abzugleiten. Insgesamt zeigt er sehr schlüssig auf, dass Barths Tauflehre in der Vergangenheit zwar viel Ablehnung erfahren hat, aber gerade heute einen wertvollen Beitrag leisten könnte, um mündiges Christsein zu fördern.
Wenngleich die Aufsätze dieses Sammelbandes inhaltlich wie sprachlich von deutlich unterschiedlicher Qualität sind und manche der Transfer-Versuche gewagt erscheinen, besteht die Stärke dieses Bandes darin, Barth’sche Theologie für eine pluralistische und beinahe schon post-christliche Gesellschaft fruchtbar zu machen. Wenngleich die Ansätze des Herausgebers selbst nicht nur Zustimmung erfahren werden, ist ihm doch dafür zu danken, mit diesem Band in Erinnerung zu rufen, dass die Theologie Karl Barths ihre beste Zeit noch lange nicht hinter sich hat und ein Transfer in unsere Zeit stets lohnenswert sein kann.
Henrik Homrighausen, M.A. ev. Theol., ist Dean of Students an der Freien Theologischen Hochschule Gießen.