Historische Theologie

Dietrich Bonhoeffer: Du wartest jede Stunde mit mir

Dietrich Bonhoeffer: Du wartest jede Stunde mit mir: Die Briefe aus dem Gefängnis, Gießen: Brunnen, 2019, geb., 400 S., € 20,60, ISBN 978-3-7655-1650-4


Vor fünfundsiebzig Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 in Flossenbürg hingerichtet. Der Leipziger Praktische Theologe Peter Zimmerling hat seit 2016 wichtige Werke und Sammlungen von kleineren Schriften, Predigten und anderen Texten Bonhoeffers im Brunnen-Verlag Gießen herausgebracht. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Lebenswerk des Berliner Theologen 1951 durch einen Band mit Gefängnisbriefen weltweit bekannt. Zimmerlings neue Edition 2019 hat den Vorteil, dass alle 113 Briefe Dietrich Bonhoeffers an seine Eltern und seinen Freund Eberhard Bethge sowie die erst nach dem Tod der Verlobten Maria von Wedemeyer 1992 veröffentlichten Brautbriefe in chronologischer Reihenfolge in einem Band vereinigt sind. In seiner Einführung (13–29) fasst der Herausgeber zusammen, welche Themen und Aspekte dieser erstmaligen Gesamtauflage von Bonhoeffers Briefen wichtig sind.

Dietrich Bonhoeffer war von April 1943 bis Januar 1945 für einundzwanzig Monate inhaftiert. In seinen Briefen zeigt sich, wie belastend die Lage des Inhaftierten oft war. Obwohl er seinen Tagesablauf diszipliniert einhielt schwankte seine Stimmung immer wieder zwischen Zuversicht und Schwermut, zwischen Selbstzweifel und Gottvertrauen.

In der Regel liest er täglich die Bibel, die Herrnhuter Losungen und Psalmen (30) und profitiert geistlich von Paul-Gerhardt-Liedern (vgl. 45, 360). Zwischen den Mahlzeiten arbeitet er theologisch, bildet sich z. B. in englischer Grammatik fort oder liest wichtige allgemeinbildende Werke vgl. 102). Er lebt mit den Festen des Kirchenjahres (z. B. 105: Reformationsfest, 319f), mit der Erinnerung an kirchenmusikalische Aufführungen und an weitere Konzerte, die er früher mit Familie und Freunden besuchen konnte.

Deutlich spürt der Leser die verschiedenen Stimmungen der Nähe und persönlicher, ja intimer Ansprache in den Briefen an die Eltern Karl und Paula Bonhoeffer, an die Braut Maria und an seinen Freund Eberhard Bethge.

Oft thematisiert Bonhoeffer den Gefängnisalltag in Berlin-Tegel und Kreuzberg mit dem einzigen Kommunikationsmittel der Briefe, die angekommen bzw. noch nicht eingetroffen sind. Er wünscht sich Bücher, die er gerne lesen würde. Der Inhaftierte berichtet von Rheuma-Schüben (106, 121), will sich Pervitin verschreiben lassen (119, 311) dankt für Esspakete, für Mitgebrachtes, Geschenke, Blumen und Tabak, die anlässlich der meist ganz kurzfristig angekündigten Besuche übergeben oder zum Gefängnis gebracht werden. Immer wieder erwähnt Bonhoeffer die starken Luftangriffe auf Berlin (z. B. 131f, 197, 312f, 333, 363).

Nachdenken über Menschliches, Geistliches und Theologisches sind eng miteinander verwoben. Bonhoeffer hofft sehnsüchtig, bald freigelassen zu werden. Er will wieder mit realen Menschen zu tun haben, mit seiner Familie zusammen sein und mit ihnen Feste feiern. Er berichtet von seinem Prozess, der nicht vorwärtsgeht, und er ist erschüttert, dass schon über dreißig seiner ehemaligen Schüler im Predigerseminar an der Front ihr Leben lassen mussten (71). Gelegentlich fließen Erinnerungen an seine Hochschullehrer Adolf von Harnack und Karl Holl ein (44, 106, 111 200f).

Von den theologischen Themen seiner Gefängnisbriefe wurden nach 1951 besonders Bonhoeffers fragmentarische Äußerungen über die nicht-religiöse Interpretation christlicher Begriffe in einer religiös sprachlos gewordenen Welt bekannt. Die Autonomie des Menschen ist „zu einer gewissen Vollständigkeit gekommen“, alle wichtigen Fragen sind für diesen Menschen „ohne Gott“ erklärbar (327). In einer religionslos gewordenen Welt muss die Verkündigung eine andere Sprache sprechen als in Zeiten, in denen man ein religiöses Apriori annehmen konnte (vgl. 278–284, 314, 330, 345ff).

Dieser kurze Überblick über den Inhalt der Bonhoefferbriefe soll vergegenwärtigen, dass hier nicht der Held der Nachkriegsdeutung, sondern ein Mensch, der in Glauben und Denken ringt, an „die vier Menschen, die mir in meinem Leben am nächsten stehen“ (129) schreibt. Zimmerlings Gesamtausgabe der Briefe Dietrich Bonhoeffers ist eine gute Gelegenheit, sich neu mit der Frömmigkeit und dem Denken des heute prominentesten Theologen in der Zeit des Dritten Reichs zu beschäftigen. Die vorliegende Zusammenstellung der Briefe wird noch weitere Kreise erreichen als schon die bisherigen Sammlungen. – Wer sich näher mit Bonhoeffers Gefängnisbriefen beschäftigen will, sei auf den folgenden Titel hingewiesen: D. B., Theologische Briefe aus ,Widerstand und Ergebung‘, Große Texte der Christenheit (GTCh), Bd. 2, hrsg. u. kommentiert von Thorsten Dietz, Leipzig: EVA, 2017, ISBN 978-3-374-05011-6.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein