Praktische Theologie

Christian Grethlein: Kirchentheorie

Christian Grethlein: Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, De Gruyter Studium, Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2018, Pb., XV+307 S., € 24,95, ISBN 978-3-11-056347-4


Der Münsteraner Praktische Theologe Christian Grethlein, seit März 2020 emeritiert, bringt mit dieser Monografie seine Position in der Kirchentheorie zur Sprache. Wie in seinem Hauptwerk, der „Praktischen Theologie“, ist auch hier der Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“ Ausgangs- und Zielpunkt der Überlegungen. Grethleins Veröffentlichung bietet ein Vorwort, eine Einführung, vier Hauptteile und einen Ausblick, dazu ein Sach- und ein Personenregister. Jeder Abschnitt wird am Ende zusammengefasst, was eine schnelle Lektüre erleichtert.

In der Einführung (§§ 1–4, S. 3–28) erfolgt eine kurze Rekapitulation ekklesiologischer Gesichtspunkte. Grethlein beschreibt Kirchentheorie als praktisch-theologisches Unterfangen, um verstärkt empirische Analysen in die Reflexion über die Kirche einzubeziehen. Die Kirchentheorien von Reiner Preul, Jan Hermelink und Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong werden als Bestreben vorgestellt, um „die gegenwärtigen Erscheinungsformen von Kirche und theologische Inhalte miteinander zu vermitteln“ (16). Die Inanspruchnahme der „Kommunikation des Evangeliums“ für seinen eigenen Ansatz von Kirchentheorie begründet Grethlein damit, dass der Kommunikationsbegriff den Anschluss an empirische Befunde ermöglicht, während der Evangeliumsbegriff eine theologische Bestimmung sicherstellt. Der Religionsbegriff wird aufgrund dessen theologischer Unbestimmtheit als Zentralbegriff für die Kirchentheorie als ungeeignet angesehen. Grethlein beschränkt seine Kirchentheorie nicht auf den Horizont der evangelischen Landeskirchen.

Der erste Teil (§§ 5–7, S. 30–45) folgt diesem Ansatz, indem er für die theologische Grundlegung der Kirchentheorie nicht die Bekenntnisschriften, sondern nur die Bibel heranzieht. Zuerst wird der Ekklesia-Begriff erörtert. Grethlein resümiert: „Hausgemeinschaft, Ortsgemeinde, Gemeinschaft auf Provinzialebene sowie weltweite Gemeinschaft stehen gleichberechtigt nebeneinander.“ (34) Er begreift „Evangelium“ im Anschluss an Jürgen Becker als „Botschaft von der Nähe der Gottesherrschaft“ (37). Sodann führt Grethlein die drei Modi der Kommunikation des Evangeliums „Lehren und Lernen“, „gemeinschaftliches Feiern“ und „Helfen zum Leben“ ein. Die Kommunikation des Evangeliums durch Jesus gestalte sich inklusiv und ergebnisoffen. Im Hinblick auf den Inhalt gelte: „Jesus vertrat also kein feststehendes Lehrgebäude, sondern entwickelte den Inhalt von Evangelium in kommunikativen Prozessen.“ (40) Diese Kommunikation erfolge immer unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes.

Im zweiten Teil (§§ 8–15, S. 47–123) untersucht Grethlein die Kontextualisierung des Evangeliums in der westlichen Kirchengeschichte angefangen bei der durch Jesus ausgelösten Bewegung. In Etappen von je 300 Jahren werden jeweils die Aspekte „Allgemeine Situation und Kontext“, „Ämter und Struktur“, „Taufpraxis“ und „Mahlpraxis“ beleuchtet. In der Vergangenheit kontextualisierten Innovationen das Evangelium erfolgreich (zum Beispiel die Gemeindeaufbau-Bewegung im Hinblick auf die moderne Sozialform des Vereins). In veränderten Kontexten trügen Innovationen der Vergangenheit mit ihren Beharrungskräften jedoch eher zur Lähmung der Kommunikation des Evangeliums bei.

Der dritte Teil analysiert die Kirchenmitgliedschaft in der Gegenwart (§§ 16–20, S. 125–197): „Kirchenmitgliedschaft ist heute in Deutschland eine Option.“ (127) Grethlein geht davon aus, dass die „zuerst durch die Obrigkeit erzwungene, später sozial abgestützte Selbstverständlichkeit der Kirchenmitgliedschaft“ (149) weiter nachlässt und sich in verringerten Mitgliederzahlen der verfassten Kirche widerspiegelt. „Der Biografiebezug scheint gleichsam das Nadelöhr zu sein, durch das heute kirchliche Partizipation vermittelt wird – oder eben nicht.“ (150) Die Volkskirche im Sinne einer selbstverständlichen flächendeckenden Präsenz der evangelischen Kirche gehe in Deutschland ihrem Ende entgegen. Den Rückgang der Mitgliederzahlen betrachtet Grethlein als „Umstellungen“ – Menschen folgten nicht mehr einer vorgegebenen kirchlichen Logik, sondern einer Eigenlogik, die z. B. tendenziell eine Eventisierung der Kasualien bevorzuge. Die Menge an Kirchenmitgliedern und das Ausmaß der Kommunikation des Evangeliums seien nicht gleichzusetzen.

Im vierten Teil (§§ 21–26, S. 199–287) rekonstruiert Grethlein den gegenwärtigen Kontext der Kommunikation des Evangeliums, u. a. unter Einbeziehung verschiedener soziologischer Theorien, etwa von Ulrich Beck. Im „Kontext der Netz-Kommunikation“ (202) verlören Institutionen und Organisationen an Bedeutung. Zwar befänden sich bestimmte Organisationsstrukturen im Niedergang, nicht aber die Kommunikation des Evangeliums selbst. Gesellschaftliche Kommunikation lege mehr und mehr Wert auf Authentizität, nicht Autorität. Grethlein hebt Aufbrüche wie die „Fresh Expressions of Church“ als Beispiele gelungener, kontextbezogener Kommunikation hervor. Die Arbeit der Kirche solle nicht mehr die Aufgaben, sondern die Gaben der Kommunizierenden zu ihrem Ausgangspunkt machen.

Im abschließenden Ausblick (S. 289–298) spricht Grethlein weitreichende Reformvorschläge für die verfasste Kirche an: Sie solle sich für neue, kontextbezogene Organisationsformen öffnen. Pfarrer dürften nicht mehr verbeamtet werden, weil die zukünftigen Pensionslasten die Kirche über die Maßen finanziell bänden. Der verfassten Kirche und den kirchlichen Berufen wird eine „Assistenzfunktion bei sich lebensweltlich ereignenden Kommunikationen“ (297) zugewiesen. Das Fundament der Kirche liege im Allgemeinen Priestertum, nicht in einem vermeintlichen „Schlüsselberuf“ Pfarramt. Die Kirche werde so „zu einem Assistenzsystem für die Kommunikationen der ‚Allgemeinen Priesterinnen und Priester‘, also zu einer diakonischen Kirche für andere“ (298).

Insgesamt legt Grethlein schonungslos Probleme der überkommenen verfassten Kirche angesichts der rasanten gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen offen. Im Gegensatz zu anderen Kirchentheorien misst er dem Faktor Tradition kaum eine Bedeutung für die Zukunft der Kirche zu, das individuelle Relevanzempfinden hinsichtlich der eigenen Biografie entscheide über das Gelingen der Kommunikation des Evangeliums. Gegenüber den breit ausgeführten Problemlagen der verfassten Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft fällt Grethleins Erarbeitung verschiedenartiger Lösungsansätze eher schmal aus. Insbesondere die inneren Strukturen der Kirche werden kaum betrachtet. Die berechtigte Frage, wie sich eine der Vergangenheit verhaftete bzw. selbstbezogene Kirche zu den Menschen hinwenden kann, wird somit im Hinblick auf die Zielvorstellung stark, hingegen hinsichtlich des dazu notwendigen Weges kaum beantwortet. Die verfasste Kirche inklusive der Kerngemeinden als eine wesentliche Säule der Kommunikation des Evangeliums wird als solche nicht beschrieben.Insbesondere Kirchenleitende dürften deshalb in Grethleins Monografie eher eine Christentums- statt einer Kirchentheorie erblicken.

Mit der Kommunikation des Evangeliums in ihren drei Modi, die inklusiv und ergebnisoffen erfolgt, stellt Grethlein wichtige Gesichtspunkte zur Gestaltung der kirchlichen Praxis zur Verfügung. Weshalb dabei der Inhalt des Evangeliums zurücktritt, insbesondere Tod und Auferstehung von Jesus Christus, ist hingegen nicht nachvollziehbar, bilden sie doch den Kern des Evangeliums. Hier werden Potenziale verpasst, der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur aus theologischer Perspektive kritisch und konstruktiv gegenüberzutreten, wie es Grethlein wichtig ist.

Christian Grethlein kann seinen Ansatz von Praktischer Theologie für die Kirchentheorie geltend machen und sowohl die Diskussion um deren theologische Fundierung als auch die Suche nach sachgemäßen Lösungen anregen.


Johannes Schütt, Doktorand, Klinikseelsorger, Leipzig