Michael Herbst: Aufbruch im Umbruch
Michael Herbst: Aufbruch im Umbruch. Beiträge zu aktuellen Fragen der Kirchentheorie, BEG 24, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, kt., 229 S., € 23,99, ISBN 978-3-7887-3213-4
„Wenn ich kirchliche Verlautbarungen lese … und wenn ich Predigten von kirchlichen Kanzeln höre … dann vermisse ich das nicht selten: Leidenschaft, Begeisterung, Menschen, die erkennbar selbst infiziert sind, die auf eine sympathische Weise brennen.“ (152). Die Begeisterung für das Evangelium und die Leidenschaft für eine Erneuerung seiner Kirche spürt man dem Greifswalder Professor für Praktische Theologie in seinen zwölf Aufsätzen und Vorträgen ab. Damit unterscheidet sich dieser Sammelband wohltuend von Veröffentlichungen zur Kirchentheorie anderer Autoren. Der spezifische Ansatz und das Anliegen des Bandes: Die Entfaltung einer „missionarisch ausgerichteten Kirchentheorie“ (11). Dies geschieht in einem kirchentheoretischen Grundlagenteil (Aufsätze I–VIII) und im Praxisteil für einen breiteren Leserkreis (Aufsätze IX–XII).
„Missionarisch“ versteht Herbst konsequent von der Missio Dei her (80ff), also im Willen und Handeln Gottes begründet und nicht im Aktionismus des Menschen. Beim Kirchenverständnis plädiert er für eine schlanke lutherische Ekklesiologie, da diese eine flexible Gestaltung und sich wandelnde Strukturen ermöglicht (Kap. I). Damit grenzt er sich implizit gegen andere Kirchentheorien ab, die diese z. B. durch ethisch-politische Kriterien ergänzen wollen (vgl. meine Rezension zu Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, JETh 28, 2014, 329–333).
Herbsts Liebe zu seiner Kirche korrespondiert mit dem Bemühen um eine realistische Sicht auf die komplexen Probleme und Spannungen „der gestressten Kirche“ in ihrer „Transformationskrise“ (11). Dabei scheut er sich auch nicht, den Finger auf wunde Punkte in der deutschen kirchlichen Situation wie strukturelle Verkrustungen, depressive Verlautbarungen und den fehlenden missionarischen Impetus zu legen. Umgekehrt reflektiert er selbstkritisch das eigene Handeln und spricht Gefahren und Defizite in missionarisch orientierten Kreisen an wie fehlende Demut (bzw. Besserwisserei). Dementsprechend warnt er davor, den Band als „Generalschlüssel zur Lösung aller Probleme der gestressten Kirche“ misszuverstehen (11). Immer wieder verweist er auf die geistliche Dimension wie Wort Gottes, Gebet, Wirken des Heiligen Geistes und Umkehr. Dementsprechend resümiert er kritisch: „Das Problem vieler Kirchentheorien besteht darin, dass sie kein inneres Verhältnis zu einer tiefen, persönlichen, reflektierten und den Alltag durchdringenden Jesus-Beziehung haben“ (205).
Herbst gelingt es, theologische Grundlagen auf ihre Bedeutung für die Praxis hin zu reflektieren. Dabei ersetzt er nicht theologische Reflexion durch sozialempirische Überlegungen, sondern spannt immer wieder den Bogen von biblisch-exegetischer Besinnung über kirchenhistorisch-reformatorische oder systematisch-theologische Reflexion bis hin zur praktisch-theologischen Relevanz. Auf der Grundlage des Gleichnisses vom Sämann (Lk 8,4–8) wehrt sich Herbst gegen eine „Ekklesiologie des geordneten Rückbaus“ (69) und ermahnt angesichts mancher ermutigender Beispiele von vitalen Gemeinden, die noch vorhandenen Ressourcen für die Gestaltung des Aufbruchs zu nutzen und dann „von unten nach oben zu addieren und nicht von oben nach unten zu subtrahieren“ (70).
Ekklesiologisch wichtig ist, dass der Horizont nicht auf die parochiale Existenz von Kirche begrenzt bleibt, sondern Dekanate/Kirchenkreise in den Blick genommen werden. (Kap. VI) Dies ist nicht nur angesichts kirchensoziologischer Entwicklungen unabdingbar (Umbruch), sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten missionarischer Kirchenentwicklung (Aufbruch), wie sie als Miteinander von parochialen Gemeinden und „fresh expressions“ in der anglikanischen Kirche als „mixed economy“ fruchtbar praktiziert werden (Kap. IX). Auch an anderer Stelle lohnt der Blick über den Gartenzaun. So wird zu Recht die Bedeutung der Familie als Grundinstanz religiöser Sozialisation betont und praktische Modelle (Orange, Messy Churches) mit missionarisch-gemeindepädagogischer Bedeutung vorgestellt (Kap. X).
Die Ergebnisse der fünften EKD Mitgliedschaftsuntersuchung werden aufmerksam analysiert und aus praktisch-theologischer Sicht kritisch reflektiert. (Kapitel V) Die Daten zeigen, wie die Zahlen der Kirchenmitglieder nicht nur abnehmen, sondern sich auch eine Ausdünnung der Mitte hin zu den Rändern hochverbundener und vor allem kaum bzw. überhaupt nicht verbundener Kirchenmitglieder mit hoher Austrittsbereitschaft ergibt. Im Blick auf diejenigen, die auf eine „stabile, nicht sonderlich aktive, aber kirchentreue Mitte“ (90) gehofft haben und sich für „Kirche bei Gelegenheit“ (85) und gegen das Gewinnen dieser Menschen für eine stärkere Verbundenheit aussprechen, formuliert Herbst deutlich: „Dieses Distanzmodell verliert aber mit jeder Kirchenmitgliedschaftsstudie mehr an Plausibilität.“ (85) Von eminenter Bedeutung für die Zukunft der Kirche ist eine weitere Beobachtung: Es „wird kaum etwas an die nächste Generation weitergegeben“. (90) Gemeint sind nicht nur grundlegende Glaubensinhalte, sondern generell Verbundenheit mit der Kirche. Die Folgen sind anschaulich an der kirchlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern ablesbar. Mündete diese Wahrnehmung noch 1999 (2011 bestätigt) in eine „missionsfreundliche Phase in der EKD“ (103), so konstatiert Herbst in der Rezeption der jetzigen Untersuchung einen „nahezu vollständige[n] Ausfall einer missionarischen Perspektive“ (103). Die grundlegende Frage nach dem Christwerden ist kein Thema mehr (103f). Vielmehr lässt sich der Tenor von kirchlicher Seite als ein „Weiter so!“ zusammenfassen (102f).
Während in der anglikanischen Kirche das missionarische Anliegen von den Bischöfen aktiv unterstützt und gefördert wird (174), vermisst Herbst diese Weitsicht in den deutschen Landeskirchen (176f). Auch andere heiße Eisen thematisiert er, wie Fragen der (neuen) Gottesdienstgestaltung (Kap. VII) und der dafür passenden Musik (137ff), die oft einseitige Konzentration auf Hauptamtliche statt der bewussten Förderung von mündigen Christen (122f, 158) und den fehlenden Mut für neue Wege (177). Gleichzeitig zeichnet sich seine Auseinandersetzung mit anderen Meinungen durch das Anliegen aus, Verbindendes hervorzuheben und den anderen zu gewinnen (127).
Problematisch erscheint die Verwendung des Begriffs „Kommunikation des Evangeliums“. Zunächst noch als Zitat von Grethlein gekennzeichnet (21, 23), wird er später bei Herbst als eigener Begriff übernommen und bedeutungsgleich mit „Verkündigung des Evangeliums“ verwendet (114, 122). Hier ist zu fragen, inwieweit dies nicht zu Äquivokationen führt, da dieser Begriff nicht einfach als Erweiterung, sondern gerade als Ablehnung und Ablösung des Verkündigungsbegriffs und auch „Evangelium“ nicht als eine vorgegebene, theologisch-inhaltlich bestimmte, sondern als eine sich im Kommunikationsvollzug prozessual zu konstituierende Größe verstanden wurde (vgl. meine Rezension des Buches von Domsgen/Schröter: Kommunikation des Evangeliums, JETh 2016, 325f).
Das Buch ist gut verständlich, theologisch fundiert und gleichzeitig praktisch orientiert und lädt immer wieder ein, sich von Gottes Wirken auch außerhalb des eigenen Denkhorizonts inspirieren zu lassen.
Prof. Dr. Markus Printz, Gemeindepfarrer, Hilsbach-Weiler