Praktische Theologie

Michael Meyer-Blanck: Das Gebet

Michael Meyer-Blanck: Das Gebet, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, Pb., XVI+435 S., € 44, –, ISBN 978-3-16-154554-2


Das Buch des Bonner Praktischen Theologen Michael Meyer-Blanck legt nach dessen Gottesdienstbuch erneut Zeugnis ab von der stupenden Gelehrsamkeit seines Verfassers.

Wie der Autor zurecht an verschiedenen Stellen feststellt, stand das Thema Gebet in den vergangenen Jahrzehnten weder im Zentrum des praktisch-theologischen noch des systematisch-theologischen Interesses. Das ist einerseits verwunderlich, wenn man die Zentralstellung bedenkt, die das Gebet für den Glauben besitzt. Ist das Gebet doch, wie der Verfasser im Vorwort schreibt, „der Ernstfall der religiösen Praxis“. Andererseits ist dieses theologische Desinteresse vor allem in der evangelischen Theologie auch wieder konsequent, da mit der Abkehr von der dialektischen Theologie auch deren theologische Denkvoraussetzungen obsolet erschienen: Sowohl Karl Barth als auch Dietrich Bonhoeffer haben auf je eigene Weise das Gebet als Voraussetzung der theologischen Erkenntnis und damit theologischer Arbeit insgesamt verstanden.

Meyer-Blancks Buch ist enzyklopädisch angelegt, was angesichts des Fehlens von aktuellen Konzeptionen zum Gebet im Raum des Protestantismus ohne weiteres einleuchtet. Es gliedert sich in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel, „Prolegomena“, entwickelt der Autor grundlegende Kategorien einer evangelischen Lehre des Gebets. Schon im § 1 wird erkennbar, worin seine Gebetstheologie ihren Fluchtpunkt hat: Meyer-Blanck will Beten als „Akt der Freiheit“ verstanden wissen. Daraus ergibt sich der das ganze Buch durchziehende denkerische Zwei-Takt: zum einen der Rekurs auf biblische und reformatorische Überlegungen und zum anderen die Berücksichtigung der das europäisch-nordamerikanische Menschenbild seit der Aufklärung prägenden Autonomie. Damit wird auch das permanente Gespräch mit dem grundlegenden vermittlungstheologischen Ansatz Friedrich Schleiermachers verständlich (was nicht heißt, dass der Autor nicht auch deutliche Kritik an dessen Gebetsverständnis üben könnte: z. B. grenzt er sich klar gegen die Ablehnung des Bittgebets durch Schleiermacher ab). Im zweiten Kapitel wird eine Phänomenologie des Gebets entfaltet. Der Autor schreitet die mannigfaltigen Erscheinungen ab, unter denen Gebet heute vorkommt: im Rahmen des menschlichen Selbstverständnisses, als (Grund-)Bestandteil von Spiritualität, in der Form des evangelischen Chorals, im Rahmen von Raumerleben, von Kunst, Musik und Literatur, im Naturerleben, im Zusammenhang mit Krankheit und der menschlichen Leiblichkeit. Das dritte Kapitel blickt zurück auf die Theologie des Gebets in den verschiedenen Phasen der Kirchengeschichte: beginnend von der Alten Kirche über das Mittelalter, die Reformation, Aufklärung und Pietismus bis zum 19. Jahrhundert. Angesichts der Unerschöpflichkeit des Feldes versteht sich von selbst, dass Meyer-Blanck jeweils nur einen kurzen Überblick gibt, dem einzelne Tiefenbohrungen folgen. Dabei bemüht der Autor sich darum, jeweils das liturgische und das individuelle Beten gesondert zu berücksichtigen.

Die beiden folgenden Kapitel sind am umfangreichsten und bilden so etwas wie den Ziel- und Schwerpunkt des Buches. Im vierten Kapitel wird eine evangelische Lehre des Gebets heute entwickelt. Meyer-Blanck setzt sich darin zunächst mit Gebetskonzeptionen aus den letzten 100 Jahren auseinander. Anknüpfend an den Psalter und das Vaterunser ist sein Ziel, eine Theologie des Gebets „in gegenwärtiger denkerischer und biblischer Verantwortung“ zu entfalten. Dabei scheut sich der Autor nicht, zu Themen im Zusammenhang mit dem Gebet klar Stellung zu beziehen, die in der gegenwärtigen evangelischen Theologie umstritten sind. So kommt er im Rahmen der Überlegungen zum Bittgebet und der Frage der Gebetserhörung zu dem Ergebnis, dass nicht nur vom biblischen und empirischen Befund her die Bitte ein unverzichtbarer Bestandteil des Gebets darstellt. Vielmehr ist es gerade das Bittgebet, das das reformatorische Menschenbild ernstnimmt und dem Menschen erlaubt, sich selbst zu transzendieren. Im Abschnitt über die Frage nach der Möglichkeit des Gebets zu Jesus Christus plädiert er, ausgehend von neutestamentlichen und reformatorischen Ansätzen, für dessen Berechtigung, wobei er die Christusanrede im Rahmen eines trinitarischen Gottesverständnisses eingebettet wissen will in eine evangelische Vielfalt von Gebetsanreden.

Das letzte Kapitel ist der heutigen Praxis des evangelischen Gebets gewidmet. Zunächst bringt der Verfasser seine Verwunderung zum Ausdruck, dass es kaum empirische Untersuchungen zum tatsächlichen Gebetsverhalten von Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche gibt. In diesem Kapitel wird nicht nur die konkrete gegenwärtige Praxis des Betens untersucht (die Sprache des Gebets, die Frage nach der Lehr- und Lernbarkeit des Betens, entwicklungspsychologische Einsichten, die Bedeutung des Gebets in Krisenzeiten, die Rolle des Gebets in der Seelsorge), sondern es werden auch brennende Fragen zukünftigen Betens in einer sich verändernden Gesellschaft aufgegriffen: So die Frage nach dem Einfluss der Digitalisierung auf das Beten und die Probleme, die sich im Rahmen multireligiösen und interreligiösen Gebets und angesichts von religiösen Feiern mit Konfessionslosen stellen. Am Ende des voluminösen Buches steht ein Ausblick: Der Autor plädiert dafür, das Integrationspotenzial des Gebets wahrzunehmen und zur Geltung zu bringen im Hinblick auf die menschliche Biografie, auf die Zusammengehörigkeit von privatem, kirchlichem und gesellschaftlichen Christentum, für die immer mehr in voneinander getrennte Teilbereiche auseinanderdriftende wissenschaftliche Theologie und für das Zusammenwachsen in der Ökumene. Der Ausblick endet mit einem Plädoyer für eine sensible multi- und interreligiöse Praxis des Gebets. Das Gebet verschaffe dem Respekt vor dem Andersgläubigen erst die notwendige emotionale Durchschlagskraft.

Vier Register helfen die enzyklopädische Weite des Buchinhaltes zu erschließen.

Wer sich in Zukunft näher mit dem Gebet und seinen unterschiedlichen Dimensionen und Erscheinungsformen vertraut machen bzw. auseinandersetzen will, hat mit dem Buch Meyer-Blancks eine zuverlässige Grundlage. Insgesamt liest sich das Buch als eine Ermutigung, sich auf das Abenteuer des Gebets in denkerischer Hinsicht, aber auch ganz praktisch einzulassen. Ich will zum Schluss nicht verschweigen, dass ich mir manchmal gewünscht hätte, dass der Autor expliziter zum Gebet ermutigt hätte. Zweifellos stellt die Theologiegeschichte seit Aufklärung und Rationalismus nicht nur eine Geschichte des Fortschritts, sondern auch des Verlusts dar. Die permanente Nötigung, sich mit den Infragestellungen des Gebets auseinanderzusetzen, hilft es denkerisch vor dem konfessionslosen, agnostisch bzw. atheistisch geprägten Menschen zu verantworten. Daneben gibt es jedoch immer noch eine Mehrheit von Menschen, die betet. Müsste nicht ihnen gegenüber der Gesamtduktus der biblischen Aussagen, vor allem der Aussagen Jesu zum Gebet in der Bergpredigt, stärker zur Geltung gebracht werden? Jesus will ganz offenbar zu einem erhörungsgewissen Gebet Mut machen, anleiten zu einem hohen sorglosen Leben in Gott, das ohne ein solches affirmatives, kontra-faktische Gebet kaum denkbar scheint. Nicht überzeugt hat mich auch, dass der Verfasser letztlich in der Vernunft die Instanz sieht, die die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu beschränken und damit denkerisch eine Selbsttranszendenz des Menschen zu ermöglichen.


Prof. Dr. Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig