Praktische Theologie

Isolde Karle: Praktische Theologie

Isolde Karle: Praktische Theologie, Lehrwerk Evangelische Theologie 7, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2019, geb., XVII+718 S., € 58,–, ISBN 978-3-374-05488-6


Das Lehrwerk Evangelische Theologie will Studierenden „gegenwartsbezogenes theologisches Grundwissen“ mit einer „praxisorientierten Ausrichtung auf das künftige Berufsfeld der Studierenden“ (V) vermitteln (zum Band 5: Dogmatik von Ulrich H. J. Koertner vgl. die Rezension von Rolf Hille). Der vorliegende Band beinhaltet eine „Gesamtdarstellung der Praktischen Theologie“ (XV), wobei jedoch die „Religionspädagogik“ ausgeklammert bleibt, weil diese in einem eigenen Band behandelt wird (Michael Domsgen, 2019, vgl. die Rezension von Judith Hildebrandt).

Studierende erhalten mit dem Lehrbuch eine übersichtliche Präsentation der für ein Pfarramt wichtigsten praktisch-theologischen Handlungsfelder. Nach einer Einführung in die Disziplin der Praktischen Theologie (Kap. 1, 31 S.) erfolgt eine kontextuelle Einbettung mit den drei Kapiteln „Religion in der Moderne“ (Kap. 2, 56 S.), „Kirche in der Moderne (Kap. 3, 44 S.) sowie „Pfarrberuf in der Moderne“ (Kap. 3, 32 S.). Auf diesem Hintergrund werden die klassischen Handlungsfelder ausführlich entfaltet: „Homiletik“ (Kap. 5, 86 S.), „Liturgik“ (Kap. 6, 98 S.), „Poimenik“ (Kap. 7, 118 S.) sowie „Kasualien“ (Kap. 8, 118 S.). In zwei Kapiteln werden abschließend „Diakonie“ (Kap. 9, 26 S.) und „Medienkommunikation (Kap. 10, 17 S.) knapp skizziert. Die einzelnen Kapitel folgen einem ähnlichen Aufbau, indem zuerst „historische Perspektiven“ dargestellt werden, wobei der Schwerpunkt auf dem Gewinn für die Gegenwart liegt, bevor „aktuelle Diskurse“ aufgenommen und weitergeführt werden. Die Darstellungen werden ausgewogen und kenntnisreich geführt und sind insgesamt gut nachvollziehbar.

Karle folgt im Aufbau einer klassischen praktisch-theologischen Struktur (etwa im Unterschied zu den eigenwilligen und unkonventionellen Strukturierungen bei Christian Grethlein, Praktische Theologie, 2012, oder bei Frank Thomas Brinkmann, Praktische Theologie, 2019), was sich positiv auf Klarheit, Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Darstellung auswirkt sowie eine schnelle Orientierung ermöglicht. In didaktischer Hinsicht fallen besonders die hervorgehobenen Merksätze auf, in welchen die Diskurse knapp und präzise zusammengefasst werden. Jedes Kapitel endet mit der Nennung ausgewählter Titel für die vertiefende Lektüre. Der Band wird mit einem beachtlichen 65-seitigen Literaturverzeichnis sowie mit Namens-, Sach- und Bibelstellenregister abgeschlossen.

Das praktisch-theologische Selbstverständnis, das im Lehrbuch zur Geltung kommt, steht unverkennbar in der Linie Friedrich Schleiermachers (5–13). Auf ihn wird durchgängig Bezug genommen (im Namensregister mit ca. 40 Verweisen die Person mit der zweithöchsten Anzahl Referenzen, mehr Einträge gibt es nur zur Autorin selbst). Die damit verbundene anthropologisch-religiöse Grundierung spiegelt sich in zahlreichen Facetten wider. Eine positive Folge dieser Sichtweise besteht darin, dass Karle die empirische Wende der 1960er und -70er-Jahre auch kritisch in den Blick nimmt und sich nicht einseitig einer sozialwissenschaftlich orientierten Praktischen Theologie verpflichtet weiß. Vielmehr wird neben der Interdisziplinarität auch der Theologiebezug als zweite bedeutsame Grundperspektive genannt (XV–XVI; vgl. 21–27). Übereinstimmend damit beginnen zahlreiche Kapitel mit einer knappen Rezeption biblischer Aussagen. Es werden zudem häufig theologische Impulse der Reformationszeit, v. a. von Martin Luther, konstruktiv in den Diskurs eingebracht. Die Verbindung von Interdisziplinarität und Theologiebezug sieht Karle auch in der gegenwärtig breit rezipierten Leitformel „Kommunikation des Evangeliums“ gegeben (16–21), die sie im Anschluss an Ernst Lange als „Praxis im Dienst der Freiheit“ verstanden wissen will (20).

Zwei weitere Linien aus dem Oeuvre von Karle finden in diesem Lehrbuch einen erkennbaren Niederschlag: Neben dem Verständnis des Pfarramtes als einer Profession (s. ihre Habilitation Der Pfarrberuf als Profession, 2001) ist es die Genderthematik („Da ist nicht mehr Mann noch Frau…“. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, 2006; vgl. auch Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, 2014), welche durchgängig als Reflexionsperspektive eingespielt wird. Damit übereinstimmend ist die prominente Stellung von Gal 3,28 – der mit Abstand am häufigsten zitierte und rezipierte Bibeltext. Es handelt sich auch um diejenige Thematik, bei der Karle deutlicher als in anderen Themenbereichen nicht nur abwägend Spannungsfelder skizziert, sondern auch Position ergreift, so etwa für die „Ehe für alle“ (538–543).

Neben der Fülle von Aspekten, die in diesem Lehrwerk integriert sind, gibt es markante Leerstellen. Aus Sicht der „evangelical community“ wird man vermissen, dass offenbarungstheologische Dimensionen kaum thematisiert werden. Die Rede über Gott, Jesus und den Heiligen Geist bleibt aus dieser Perspektive eigentümlich vage. Die vorhandenen biblischen Bezüge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass insgesamt der Bibel nur ein geringes Maß an normativer Orientierungskraft für die Praktische Theologie zugestanden wird. Studierende können auch nicht erwarten, Auskunft über missionarische Ansätze der Kirchenentwicklung zu erhalten. Themen wie Mission, Evangelisation, Konversion werden nicht reflektiert und erscheinen auch nicht im Sachregister. Weder werden wissenschaftliche Reflexionen zu diesen Themenkreisen rezipiert (so werden z. B. keine Publikationen von Michael Herbst oder von anderen Autorinnen und Autoren aus dem Greifswalder Institut aufgeführt) noch werden entsprechende Bewegungen innerhalb und außerhalb der EKD-Kirchen wahrgenommen. In dieser Hinsicht scheint das Lehrbuch über weite Strecken in einem neuprotestantisch-spätvolkskirchlichen Diskurs verhaftet zu bleiben.

Die Rezension soll aber nicht mit Problemanzeigen enden, was dem Lehrbuch nicht gerecht werden würde. Denn es gelingt Karle, den Diskurs nicht nur darzustellen, sondern auch zu beleben und weiterzuführen. Es werden positive Akzente gesetzt, die das Potential haben, den etwas zu eng gesetzten Diskursrahmen aufzubrechen, und die es wert sind, auch über alle theologischen und konfessionellen Kontexte hin wahr- und aufgenommen zu werden. Neben vielen kleinen hilfreichen Lernerträgen aus der Lektüre sei vor allem auf das Kapitel über Seelsorge verwiesen. Geradezu als Perlen erweisen sich etwa die Ausführungen über „Seelsorge als Trost“ (in Rezeption von Martin Luthers per mutuum colloquium et consolationem fratrum; 348–357) sowie die konstruktive Interpretation von Eduard Thurneysens Seelsorgelehre als „Seelsorge im Horizont der Hoffnung“ (372–378). Hier zeigt sich exemplarisch der Gewinn einer theologisch verantworteten Praktischen Theologie.

Das Lehrwerk vermittelt insgesamt einen soliden und informativen Einblick in die praktisch-theologischen Diskussionen neuprotestantisch-universitärer Provenienz. Innerhalb dieses Diskurses setzt der Band eigene Akzente, indem der kirchliche und soziale Charakter der Evangeliumskommunikation berücksichtigt und damit ein zu enges subjekttheoretisches Religionsparadigma aufgebrochen wird. Es ist zu wünschen, dass es in der „evangelical community“ als anregender Gesprächspartner und als Anreiz für den weiteren praktisch-theologischen Diskurs wahrgenommen wird.


Prof. Dr. Stefan Schweyer, Ordentlicher Professor für Praktische Theologie an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel