Systematische Theologie

Martin Grabe: Homosexualität und christlicher Glaube

Martin Grabe: Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama, Marburg: Francke, 2020, geb., 96 S., 10,95 €, ISBN: 978-3-96362-172-7


Martin Grabe, ärztlicher Direktor der Klinik Hohe Mark in Oberursel und Leiter der Akademie für Psychologie und Seelsorge, entfaltet auf weniger als einhundert flüssig zu lesenden Seiten die Gründe für seine Überzeugung, warum homosexuelle Christen „ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gott und der Gemeinde eingehen“ dürfen und in jeder Hinsicht willkommen zu heißen sind (76).

Wie das erste Kapitel verdeutlicht, ist die Ablehnung praktizierter Homosexualität geschichtlich betrachtet kein exklusiver Topos christlicher Verkündigung gewesen, sondern spiegelte eine kulturübergreifend gesellschaftliche Ächtung. Angesichts dieses Globalbefundes wirkt es dann doch abseitig, diese Ablehnung für Deutschland (einzig) auf die „preußisch-soldatische Herkunft unseres jetzigen Staatswesens“ (13) zurückzuführen. Grabe verzichtet hier wie auch sonst auf jegliche fachwissenschaftliche Belege, die eine solche spezielle historische These aus dem Mund eines Arztes zu stützen in der Lage wären. Bei Grabe steht diese historische Konstruktion allerdings im Dienst einer psychologischen Behauptung: Die Diskriminierung von (männlichen) Homosexuellen beruhe „auf der erlernten Übernahme traditioneller Tabus, diese wiederum gründen […] größtenteils auf kollektiver neurotischer Abwehr homoerotischer Anteile der eigenen Psyche“ (16). Damit ist ein Grundton angestimmt, der sich bis ans Ende durch das Buch zieht: Historische, biblische und theologische Überlegungen, die auf ihrer je eigenen Sachebene diskutiert werden müssten, werden durch (tiefen-)psychologische Einordnungen gegen Einwände immunisiert. So jedenfalls wird man die wiederholten Aussagen Grabes verstehen müssen, dass Kritiker von Grabes Sicht die Bibel noch nicht ernsthaft gelesen hätten und noch intensiver beten sollten (36, 79). Das will sagen: Sie verstecken hinter unreflektiert vorgetragenen Bibelzitaten die Verdrängung ihrer eigenen homoerotischen Persönlichkeitsanteile.

Im Bereich eigener Expertise bewegt sich Grabe mit seinen Ausführungen zur Homosexualität aus therapeutischer Sicht. Der hinsichtlich der Verursachung homoerotischer Anziehung komplexe Befund – der auf eine komplizierte Wechselwirkung biologischer und sozialer Faktoren hinweist – wird erwähnt (25f), die Einschätzung, dass Homosexualität in den meisten Fällen unveränderbar sei, als Konsens der Fachwelt bezeichnet. Grabes Fokus liegt nicht nur hier auf „den meisten Fällen“, bei denen die sexuelle Orientierung, weil tief in der Persönlichkeit verankert, „nicht geändert werden kann“. Schade, dass der Vf., der mit seinem Buch eine Minderheit stärken möchte, der Minderheit derer, die eine Veränderung erfahren haben, keine Beachtung schenkt. Darin liegt eine Engführung des Buches insgesamt.

Von genuin theologischem Anspruch sind die Kapitel 4 und 5. Hier wertet Grabe fünf für die Diskussion einschlägige Bibeltexte aus, die regelmäßig für die Verurteilung praktizierter Homosexualität herangezogen werden. Kurz gesagt: Die Texte des Heiligkeitsgesetzes verurteilten Homosexualität, weil homosexuelle Akte praktisch den Bruch einer bestehenden Ehe bedeuteten. Und die einschlägigen Texte im Neuen Testament verurteilten lediglich Promiskuität und Prostitution, weshalb sie zu heutigen gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen nichts sagten. In diesem Teil des Buches ist die Ignoranz der theologischen Fachdiskussion besonders fatal. Um nur so viel zu sagen: Wenn homosexuelle Akte um des Schutzes der Ehe willen verurteilt werden, wäre Sex mit Tieren in Ordnung, solange der menschliche Partner unverheiratet ist? Und das Kinderopfer würde verurteilt, weil es die Israel gegebene Nachkommens-Verheißung in Frage stellt? Nein, es geht in den Bestimmungen insgesamt darum, die Ordnungen in Lebensverhältnissen vor Übertretungen zu schützen: im Verhältnis der Gattungen, der Geschlechter und der Familienangehörigen. Und nach Röm 1 stehen alle Menschen (egal welcher sexuellen Orientierung) unter dem Urteil Gottes, was die Verurteilung homosexueller Handlungen nicht auf Prostitution und „Knabenliebe“ beschränkt, auf die sich der hier ausdrücklich erwähnte lesbische Verkehr historisch auch nicht anwenden lässt. Paulus geht es, um sein Argument zu erläutern, um eine nach seinem Ermessen verkehrte Beziehungsform, überhaupt nicht um individuelle Fallkonstellationen.

Wenn Grabe im fünften Kapitel ausführt, dass Gott alle Menschen, so wie sie sind, geschaffen und folglich auch so gewollt habe, erliegt er philosophisch gesehen dem Fehlschluss vom Sein auf das Sollen, wohl auch deshalb, weil er der Wirklichkeit der Sünde keine hinreichende Beachtung schenkt. Die uns zugängliche natürliche Welt ist nicht identisch mit der Schöpfung Gottes „im Anfang“, sondern spiegelt Gottes Schöpferhandeln in der Brechung durch die Sünde, die dieser gefallenen Welt ihre (vorläufige) Signatur gibt. Was wir am empirischen Dasein eines Menschen ablesen können, ist kein verlässlicher Kompass im Blick auf das, was Gott will. Vielmehr ist vom Offenbarungszeugnis aus zwischen dem Dasein jedes Menschen und seinem konkreten Sosein zu unterscheiden. Ersterem gilt Gottes unbedingtes Ja, letzteres trägt auch die Spuren des Falls an sich, was übrigens unabhängig von der sexuellen Orientierung gilt. Wenn wir einfach „akzeptieren müssen und dürfen, dass er [Gott] uns so geschaffen hat, wie wir sind“ (59), warum sind dann unter christlichem Einfluss medizinische Behandlungseinrichtungen entstanden?

Sein Plädoyer, gleichgeschlechtliche Paare als Eheleute zu segnen, wird von Grabe damit begründet, dass nur wenige Menschen, die ein besonderes Charisma empfangen haben, ohne Sex leben könnten. Alle anderen nähmen bei einem (dauerhaften) Verzicht Schaden an Leib und Seele (74). Das sind düstere Aussichten für Singles und Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihrer Sexualität keinen Ausdruck geben können. Doch die Behauptung, Sex zu haben sei ebenso überlebenswichtig wie essen und atmen, ist schlicht falsch, wie u. a. der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch festhält: „Es ist ein modernes Märchen, dass das Leben arm und langweilig sei ohne sexuelle Aktivität. Nicht nur in anderen Kulturen ist millionenfach das Gegenteil bewiesen worden. Um Nähe zu einem Menschen herzustellen, bedarf es sexueller Aktionen und auch körperlicher Berührungen nicht“ (Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, Frankfurt: Campus, 2013, 22015, 207). Und wenn Grabe im letzten Buchkapitel schreibt, dass für ihn die Angriffe von LSBT-Aktivisten gegen den APS-Kongress 2009 „traumatische Tiefe“ gehabt hätten und neuerliche Anfeindungen in ihm eine „tiefe Angst“ ausgelöst hätten (95), legt sich die Frage nahe, ob der Autor, der bei Kritikern einer offenen Position viel Verdrängung und wenig Bibelkenntnis im Spiel sieht, nicht seine eigenen Lesevoraussetzungen kritischer hätte prüfen sollen.

Fazit: Grabes Buch stellt eine wichtige Frage: Warum tun sich (viele) Evangelikale so schwer mit der Akzeptanz homosexueller Menschen? Dass er das subjektive Leid der Betroffenen ernst nimmt, ist uneingeschränkt zu würdigen. Und der Anspruch, Fragen der Gleichstellung biblisch-theologisch klären zu wollen, weist in die richtige Richtung. Leider wird dieser Anspruch nicht eingelöst. Zu wenig wird im Blick auf homosexuelle Menschen zwischen Empfindungen, Orientierung, Praxis und Identität differenziert und damit das eigentlich schon erreichte Niveau der Diskussion unterboten. Der theologischen Argumentation fehlt jeder Hinweis auf die leibliche Komplementarität von Mann und Frau, wie sie für das jüdische Verständnis und das urchristliches Zeugnis grundlegend ist. Die Schöpfung wird nicht in einen Zusammenhang mit Sünde und Neuschöpfung gebracht, weshalb der Auswertung einzelner Bibelstellen der übergreifende Zusammenhang fehlt. Der Fokus liegt – gegen Paulus – dermaßen stark auf dem Eingehen einer Ehe, dass Beziehungsformen wie tiefe Freundschaften nicht gewürdigt werden können. Das Buch wird die Grenzen in einer leidigen Debatte zwar kaum verschieben, stellt sie aber mit seiner – anzuerkennenden – Ehrlichkeit, eine vollständigen „Öffnung“ von Ehe und Familie für homosexuelle Menschen in evangelikalen Gemeinden zu fordern, zumindest deutlich heraus.


Prof. Dr. Christoph Raedel, Professor für Systematische Theologie und Theologiegeschichte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen