Jan Christian Gertz: Das erste Buch Mose
Jan Christian Gertz: Das erste Buch Mose. Genesis: Die Urgeschichte Gen 1–11, ATD Neubearbeitungen 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, Geb. XXVII+348 S., € 90,–, ISBN 978-3-525-51645-4
Jan Christian Gertz, Professor für Altes Testament in Heidelberg, legt eine Neubearbeitung zur Urgeschichte vor, die Gerhard von Rads einflussreichen Kommentar in der Reihe Altes Testament Deutsch nach 70 Jahren ablöst.
Da die kritische Pentateuchforschung besonders in den Schöpfungs- und Sintflutgeschichten ihre Prüfsteine findet, ist die Urgeschichte forschungsgeschichtlich von hoher Relevanz. Die jeweilige entstehungsgeschichtliche Erklärung der Urgeschichte definiert, welches Pentateuchmodell vertreten wird. Zudem haben die grundlegenden theologischen Themen wie Schöpfung, Ebenbildlichkeit und Sünde eine außerordentliche Rezeption erfahren, sodass eine nicht zu bewältigende Flut von Sekundärliteratur Segen und Fluch zugleich ist. Gertz gelingt es, in beiden Bereichen Schneisen zu schlagen. Wie heißt es so schön: In der Beschränkung zeigt sich der Meister. Freilich habe die Urgeschichte ihren Wert für die Deutung des Ursprungs des Kosmos, des Lebens und der frühen Menschheitsgeschichte „zugunsten der modernen Wissenschaften räumen müssen“ (1). Gertz sieht die Urgeschichte in Analogie zu den ionischen Naturphilosophen (Thales von Milet und Anaximander), aber nicht im Widerspruch zur modernen Naturwissenschaft, da es dem biblischen Text um eine theologische Deutung der Welt gehe, auch wenn er auf zeitgenössische mesopotamische Naturkunde zurückgreife (78–79). Sein Wert für die Erklärung der Welt manifestiere sich in Gen 2,4–4,27 vor allem in seinen Ätiologien und in der Flutgeschichte (Gen 6,5–9,17) in seinen Aussagen zum Menschsein und zur Sünde.
Im Gegensatz zu von Rad sieht Gertz die Urgeschichte als literarisch eigenständige Größe, auch wenn er anerkennt, dass die ganze Genesis durch die Toledot-Formeln gegliedert werde und das Thema von Segen und Mehrung das ganze Buch präge. Hier könnte die kritische Rückfrage gestellt werden, wie stark trennende und verbindende Elemente innerhalb der Genesis zu gewichten sind. Zudem kann gefragt werden, ob die Genesis jemals als eigenständiges Buch außerhalb des Pentateuch existiert hat. Anders als Georg Fischer (HThKAT, siehe die Rezension https://rezensionen.afet.de/?p=879), der den klassischen Pentateuchmodellen den Rücken zuwendet und von der literarischen und theologischen Einheit des Buches ausgeht, entwickelt Gertz seinen Ansatz innerhalb des literarkritisch-redaktionsgeschichtlichen Mainstreams weiter. Er hält an der exilischen Priesterschrift (P) fest, die er als „literarisch weitgehend einheitlich“ (9) betrachtet und die durch halbfetten Druck hervorgehoben wird. Nachdem in der Forschung der Elohist als Quelle weitgehend aufgegeben wurde und auch beim Jahwisten kein Konsens im Blick ist, wird heute vielfach nur noch von „nicht-priesterlichem“ Material gesprochen. Gertz verortet dieses in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts in die Zeit Manasses. Er hält es wie „P“ für ursprünglich selbstständig und nicht als Vorbau zur Vätergeschichte (Gen 12–50). Die nicht-priesterlichen Texte differenziert er in einen weisheitlichen Erzähler (kursiv gesetzt) und in eine umfangmäßig übersichtliche nachpriesterliche Redaktion in Gen 6,1–4; 9,18b.20–27; 10,8–19.21.24–30 und 11,1–9 sowie weiteren Einzelversen (mager gedruckt). Problematisch ist bei diesem Modell, dass die nicht-priesterliche Urgeschichte keinen angemessenen Abschluss findet. Weil die Turmbauerzählung in Gen 11,1–9 mit der abschließenden Nennung Babylons und der Zerstreuung der Menschheit endet, sei der Umfang des nicht-priesterlichen Werkes auf Gen 2,4–8,22* zu beschränken. Die Bezüge von Gen 11,6 auf 3,22 und von 11,5 auf 6,1–4 erklärt Gertz damit, dass alle diese Verse von der Hand des Redaktors stammen. Gertz nimmt in der Urgeschichte keine deuteronomisch-deuteronomistische Beeinflussung, wohl aber eine Kenntnis vorexilischer Unheilspropheten wahr.
Wie ist das Verhältnis der Urgeschichte zu den altorientalischen Parallelen zu sehen? Gertz geht insbesondere bei der Flutgeschichte von der Kenntnis mesopotamischer Vorbilder aus und sieht enge Beziehungen zum Gilgamesch-Epos, zum Atraḫasis-Epos und zu Enuma elisch, hält eine genaue Rekonstruktion der Rezeptionswege aber für schwierig. Stattdessen sei davon auszugehen, dass die altorientalischen und biblischen Texte eine ähnliche Weltsicht teilen, die Urgeschichte aber ihr theologisch individuelles Profil bewahre. Der erste Schöpfungsbericht sei kein Gegenentwurf zu Enuma elisch und beinhalte auch keine Polemik gegen altorientalische Schöpfungsmythen (77).
Die Bibliografie beschränkt sich auf 20 ausgewählte Kommentare sowie gut sieben Seiten Spezialliteratur, die als „ständige Zeugen“ in einer Kurzform angegeben werden. Die Kommentierung verarbeitet eine Fülle von Sekundärliteratur, ohne sich zu verlieren. Die Anmerkungen zu den Übersetzungen sind vor allem textkritischer und philologischer Art, während in der eigentlichen Kommentierung der Diskurs mit anderen Exegeten stattfindet. In der Übersetzung werden die unterschiedlichen Quellen und Redaktionen, wie beschrieben, durch unterschiedliche Lettertypen voneinander abgesetzt.
Gertz gliedert die Urgeschichte in zehn Abschnitte (1,1–2,3; 2,4–3,24; 4,1–26; 5,1–32; 6,1–4; 6,5–9,17; 9,18–29; 10,1–32; 11,1–9; 11,10–26). Die Literarkritik wird also der Toledotstruktur übergeordnet. Der Kommentierung werden Ausführungen zu Kontext, Entstehung, Aufbau, Gattung und Tradition vorangestellt. Entstehungsgeschichtliche Fragen werden zwar regelmäßig thematisiert, können aber ohne Verlust übersprungen werden. Zentral steht bei Gertz eine gründliche exegetisch-theologische Erklärung des biblischen Textes. Aus der Fülle seien beispielhaft einige Punkte genannt: Gen 1,1 versteht Gertz als Überschrift und 1,2 als Vorweltschilderung. Gen 1,26 deutet Gertz als kommunikativen Plural und die Gottesebenbildlichkeit in 1,27 als Repräsentation. Der zweigliedrige Vergleich „Bild“ diene als Näherbestimmung derselben Referenzgröße (Beth essentiae). Inhaltlich sei die Befähigung zur Herrschaft gemeint (dominium terrae). Wie bei vielen kritischen Exegeten heute üblich, wird Gen 3 nicht als Sündenfall aufgefasst. Die Sünde sei dem Menschen nicht wesenhaft eigen oder angeboren (174). Gen 3 beschreibe aber, wie die Sünde in die Welt gekommen ist und den Ermöglichungsgrund für die Sünde, was dann in Gen 4,1–16 entfaltet werde. Der Abschnitt über die Engelehen in Gen 6,1–4 wird der Redaktion zugewiesen und könne aus literarischen und inhaltlichen Gründen nicht als Begründung der Sintflut dienen. Andererseits sei dieser Abschnitt nicht wirklich ein Fremdkörper in der Urgeschichte, sondern werde durch Formulierungen theologische Parallelen in den weiteren Kontext eingebunden.
Im März 2021 erschien eine verbesserte und leicht erweiterte zweite Auflage. Ob der Neubearbeitung dieselbe Lebensdauer wie von Rads Kommentar beschieden sein wird? Auch wenn man das zugrunde liegende Pentateuchmodell nicht teilt und synchrone Ansätze bevorzugt, kann man viel Honig aus der Kommentierung ziehen. Sie spiegelt die aktuelle Forschung wider, schlägt Breschen in die Literaturflut und bietet eine gründliche wie ausgewogene theologische Erklärung eines elementaren und bis heute faszinierenden Bibeltextes.
Dr. Walter Hilbrands, Dekan und Dozent für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen